Montag, 24. März 2008

Jonathan Littell – Die Wohlgesinnten

  1. (Der Spiegel 11.02.2008)
    Jonathan Littell – Die Wohlgesinnten
    „Die Wohlgesinnten“ sind die griechischen Erinnyen, jene Rachegöttinnen, die in einem Euphemismus als Eumeniden, eben Wohlgesinnte, bezeichnet wurden, um ihren Zorn zu beschwichtigen.
    Der Schleier des Vergessens und der Verdrängung muss weggezogen werden.
    Beide Seiten, das getane Unrecht und das erlittene, müssen in einem neuen Diskurs zusammengebracht werden. Bisher hat man sie nur einzeln rezipiert.
    Der Holocaust wird heute oft vollkommen losgelöst vom Krieg betrachtet, er ist zu einem eigenen, quasi theologischen Thema geworden. Dadurch wird er enthistorisiert.
    Die gesamthistorische Betrachtung dejudaisiert das Problem auf eine bestimmte Weise, und das ist gut so, denn es ist ein universelles Problem.
    Der Holocaust ist nicht allein ein Problem der Juden, weil sie die Opfer sind, und der Deutschen, weil sie die Täter sind, sondern das Problem aller Menschen, weil sie potentiell selbst zu Henkern werden könnten.
    Im Krieg sind nicht unbedingt die Leute am interessantesten, die einander umbringen, die aufeinander schießen. Hinter den Kulissen ist immer ein bürokratischer Geist am Werk, eine administrative Bewerkstelligung des Tötens. Auch das Militär funktioniert bürokratisch.
    Kultur schützt nicht vor Barbarei: Es gibt sogar eine Nähe von Kultur und Barbarei. Die Mischung aus Intellektuellem und Henker ist kein Hirngespinst. Man kann Beethoven oder Mozart lieben, Goethes „Faust“ lesen oder Flauberts „Lehrjahre des Gefühls“ und trotzdem ein Unmensch sein.
    Moderne Orestie: Der literarische Diskurs unterscheidet sich vom historischen – in Letzterem kann man sagen: Diese Person ist falsch. Aber der literarische Versuch ist eine Art, sich der Wahrheit anders zu nähern. Literatur ist eine spezifische Wahrheitsfindung.
    Kunst will die extremsten Aspekte menschlicher Erfahrung vermitteln. Dazu gehört die Liebe, aber auch der Tod. Krieg, Massenmord sind solche Extremsituationen. Man sollte aber nicht verständnislos, erstarrt im Schrecken, unfähig, das Furchtbare zu akzeptieren, davor stehenbleiben. Historiker sammeln die Fakten des Grauens, und wenn sie gute Autoren sind, kann ihr Blick über das Geschehene hinausgehen. Das ist aber nicht zuvörderst ihre Absicht. Literatur dagegen will ein Fenster hin zum Unverständlichen öffnen. Noch einmal: Wahrheit in der Literatur ist etwas anderes als Wahrheit in der Geschichte.
    Man kann niemandem etwas erklären, was man nicht selber weiß. Ich habe für mich, ganz allein für mich, lediglich versucht, bestimmte Dinge zu verstehen, Dinge, die mir unverständlich sind. Und immer noch unverständlich bleiben, größtenteils. Vielleicht ist es mir nur gelungen, das Unverständliche ein bisschen besser einzukreisen.
    die Wirkung auf den Leser oder dessen Interpretation meines Buchs. Es ist aus meinem Schreibexperiment geboren, nun führt es sein Eigenleben. Ich besitze es nicht mehr, ich habe keine Autorität mehr darüber, für mich ist es eine Spur, die meine Erfahrung hinterlassen hat. Es gehört mir nicht mehr als jedem interessierten Leser, und deshalb ist das Herangehen jedes Lesers berechtigt, sogar notwendig - das Ihre so gut wie das eines jeden. Aber diese Deutung erfolgt eben ohne mich, ohne meine Zustimmung oder Ablehnung.
    Faulkner, Melville, Genet, Marquis de Sade, Bataille: Tabu und Überschreitung – der Orest-Mythos
    Im Reichssicherheitshauptamt, der Terrorzentrale der Nazis, hatten zwei Drittel der SS-Leute studiert, die Hälfte davon promoviert. Auch Aue ist Jurist mit Doktortitel.
    Diese junge Elite arbeitete in völlig neuen, selbstgestalteten Institutionen, und ihr fehlte jede Empathie, jedes Mitleid, jedes menschliche Maß. So funktionierte meiner Meinung nach die Nazi-Bürokratie: im Wettstreit der Institutionen um die Erfüllung des angenommenen oder antizipierten Führerwillens.
    Diese Form von Schrankenlosigkeit Entsteht wahrscheinlich aus Angst, aus existentieller Verunsicherung, einem Gefühl der Bedrohung und der Verwundbarkeit.
    Kunst ist die beste Möglichkeit, Wirklichkeit auszudrücken.
    Es gibt nur die Hoffnung zwischen "schlimm" und "etwas weniger schlimm".
    Die Wohlgesinnten, griechisch die Eumeniden, also die euphemistische Beschwörung der Rachegöttinnen, hatten seine Spur wieder aufgenommen, lautet der letzte Satz Ihres Romans. Gibt es keine Erlösung? Hören die Erinnyen irgendwann auf, die Schuldbeladenen zu verfolgen?
    Littell: Der Vergangenheit entkommt man nicht. Eine Verurteilung mit einer Bestrafung mag die Opfer befriedigen, die Täter akzeptieren das nicht. Sie sehen ihre Schuld nicht ein und nehmen deshalb auch keine Sühne auf sich, schon gar nicht, wenn sie ihre Taten im Auftrag des Staats begangen haben.

    Die Furien, Euminiden, Wohlgesinnten
    http://de.wikipedia.org/wiki/Erinnyen
    Orestie
    http://de.wikipedia.org/wiki/Orestes
    Reichssicherheitshauptamt
    http://de.wikipedia.org/wiki/Reichssicherheitshauptamt
    Milgram-Experiment
    http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment
    Stanford-Prison-Experiment
    http://de.wikipedia.org/wiki/Stanford-Prison-Experiment
    Third Wave
    http://de.wikipedia.org/wiki/The_Third_Wave
    http://www.vaniercollege.qc.ca/Auxiliary/Psychology/Frank/Thirdwave.html
    Gruppenzwang
    http://de.wikipedia.org/wiki/Gruppenzwang
    Die Henker sprechen lassen
    http://wissen.spiegel.de/wissen/image/show.html?did=55766077&aref=image036/2008/02/09/ROSP200800701500153.PDF&thumb=false

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