Donnerstag, 11. Dezember 2008

Die Tränen des Jesse Jackson



Wenn ich mir die Wahl unseres Präsidenten vor Augen führe, um das bewegendste  Bild auszuwählen, würde ich keine Minute überlegen: das Gesicht des tränenüberströmten Jesse Jackson bei der Anhörung der Siegesrede von Barack Obama in Chicago.

Nachträglich erklärte Jackson das „majestätische“ Aussehen Obamas und die „Erinnerung an all jene Märtiyrer und Ermordeten, deren vergossenes Blut diese Nacht erst möglich machten“, hätten ihn um die Fassung gebracht.

Zur Erinnerung: Jesse Jackson ist nicht nur der Reverend einer Baptistenkirche, der es selbst zum Präsidentschaftskandidat gebracht hat. Jesse Jackson ist auch der Mann, der im Balkon an der Seite Martin Luther King stand, als im April 1968 die tödlichen Schüße auf den Bürgerrechtler fielen.

Auf dem einen Auge sind es sehr persönliche Tränen, die da flossen. Auf dem anderen jedoch, und das ist es, was uns allen angeht, sind es die Tränen der Welt, die wir erblickten. Es sind gewiss auch Tränen der Freude, des lange Ersehnten und endlich Erlangten, des Realität gewordenen Traumes (ursprunglich stand hier „unendlich ersehnt", meinend dieser Traumgedanke liege eine Ewigkeit zurück, aber  wenn ich bedenke daß Obama der einzige derzeitige schwarze Senator ist und wenn ich bedenke, dass er überhaupt der fünfte schwarze in der Geschichte des US-Senats ist und wenn ich zugute letzt mir in Erinnerung hole, dass der erste Schwarzer im US-Senat seinen Dienst im Jahre 1870 antrat…).

Es sind aber auch und vor allem Tränen der Angst und der Trauer. Der Traum, der Wirklichkeit geworden, ist der Traum, der nicht weiter geträumt werden kann, ist der verlorene Traum. Und – verdammt, ich bin wirklich kein Pessimist – an Obama verlieren wir einen unserer letzten Träume, dass irgendeiner daherkommt, dazu mit dem Nimbus des lange von Vorurteilen umgebenens versehen, und uns rettet.

„We will get there“ sprach Obama in seiner Siegesrede. „We will get there“, sagte MLK in seiner letzten öffentlichen Rede. „We will get there“, hören wir als erstes von Moses beim Anblick des versprochenen Landes.

Die moderne Philosophie lehrt uns vorsichtig zu sein mit diesen Versprechungen. Allzu oft kristalisieren sich in ihnen die Träume einer ganzen Generation, einer ganzen Ethnie, der ganzen Menschheit. Die römischen Kaiser nicht als Herrscher eines enormen Imperiums aber als Opfer der Unverwirklichbarkeit einer allgemein Projektion. Es gibt diese Insel der Glückseligkeiten höchstvermutlich nicht, mehr noch, ihre Wirklichkeit ist undenkbar, gäbe es sie, wären sie nicht, was sie sind. Wir werden sie nie erreichen, aber wir sollten nie aufhören nach ihnen zu suchen.

Wir werden nirgends ankommen, weil wir kein Ziel haben, anders: der Weg ist das Ziel. Aber wir werden laufen müssen und der Weg, den uns das Ergebnis dieser Wahl geebnet hat, ist angenehmer zu gehen als die Wege davor. Abraham Lincoln sagte eines Tages „Wer im Leben kein Ziel hat verläuft sich“, es ist wichtig zu wissen, dass diese Ziele nicht gottgegeben, sondern menschengemacht sind, es ist wichtig zu wissen, dass sich ein jeder sein eigenes Ziel setzt und seinen eigenen Weg geht. Die Ankündigung des „we will get there“ ist persönlich umzumünzen: „You will get there“, was eine Lüge ist, aber man kommt weiter, wenn man sich daran hält.

 

TOPOI

Robert de Niro: diese Unerfahrenheit

Sarah Silverman: Barack in hebrew means lightening

Honest Abe: Wer im Leben kein Ziel hat verläuft sich

Der Spiegel: „Lange ist es her, dass die Welt zuletzt eine solche Projektionsfläche besaß“.

Barack Obama:  if there is anybody out there, who still doubt

Barack Obama: It´s been a long time coming

US – Senat: bis heute ganze 5 schwarze Senatoren

Jesse Jackson:

LINKS:

http://en.wikipedia.org/wiki/African_Americans_in_the_United_States_Congress

Montag, 10. November 2008

Turbo, Gambling & der neue Präsident

Turbokapitalismus, Gambling und unser neuer Präsident

 

Everybody knows the good guys lost
Everybody knows the fight was fixed
The poor stay poor, the rich get rich
Thats how it goes
Everybody knows

 (Leonard Cohen)

 

Alle Welt redet von der Krise des Kapitalismus, aber ist es „wirklich“ eine Krise? Ein Zeichen der Ungesundheit gar?  Ein Symptom? Ein Unfall? Ein Vorbote des Ablebens gar?

Nein! Das, was derzeit meistens mit „Finanzkrise“ gemeint wird, ist ein Ausdruck der Stärke des Kapitalismus, seiner überbordenden Gesundheit. Und es ist dieses Übermaß  an Gesundheit, welche zum Problem geworden ist.

Es ist bekannt, dass ein Überschuss des Glückszustandes selbst zum „Problem“, zum Unglück wird – in der Drogentherapie läuft es unter dem Stichwort Junkie-Effekt. Verkürzt besagt es folgendes: Glück besteht in der Überwindung des Unglücks. Es gibt kein Glück „an sich“, kein „glücklich sein“, sondern eine Überwindung eines unangenehmen Zustandes – welches wir nicht Unglück nennen, aber welches unfraglich aus einem Mangel entsteht (verdammt, man merkt wohl, dass ich zuviel von Alfred Adler zuletzt gelesen habe!). Junkie-Effekt, weil die Produktion des ewigen (abrufbaren) Glückzustandes, welche dem Junkie vor dem Entzug (oder Ableben) zur Verfügung steht, zu einem Zustand der Normalität wird, zum Normalfall. Der Junkie kann dieses Hindern der Glückempfindung dadurch umgehen, dass er zu einer höheren Dosis greift, die ein erneutes Katapultieren aus dem „Normalzustand“ ermöglicht und ihm einen neuem „Kick“ verschafft. Es gibt da allerdings ein kleines Problem: der liebe Gott, hat seinerzeit nicht daran gedacht, dass der Verzehr aus dem Apfelbaum des Glücks zu einem Dauerzustand werden könnte. Dass aus der Aufforderung sich über die Welt zu verteilten und zu vermehren notwendigerweise ein permanentes Angebot an Äpfeln entstehen wurde. Und folglich, hat uns der liebe Gott nicht mit einem Organismus ausgestattet, welches in der Lage ist ein gerade erreichtes Glückzustand unmittelbar anschließend erneut zu superieren (wir lassen es hier unbemerkt, dass auch die liebe Umwelt, diese ewige Überbietung gar nicht zulassen kann – Leben ernährt sich bekannt aus sich selbst und mehr Leben bedeutet mehr Tod!

Greift nun diese Analogie wirklich auf unsere Gesellschaft? Ich vermute – ein Pessimist hätte er hier „fürchte“ gewählt – sie greift nicht nur auf unsere, sie greift auf jede Gesellschaft.

Wenn es einer Gesellschaftsformation – auf welcher Ebene auch immer, von der Gesellschaft, die in einer Ehe begründet wird bis zu unserer heutigen globalisierten Welt - „zu“ gut geht, muss sie um erneut oder weiterhin glücklich zu sein, Unglück produzieren (Herstellung eines erneuten Mangels). Da eine Gesellschaf t per definitionem aus einem „vielen“ besteht, führt dies unweigerlich dazu dass die Sozien nun auf unterschiedlichen Unglücksleveln schweben. Und hier fangen die Probleme an, jeder hat seine spezielle Überwindung des Unglücks (für manchereiner ist die Herstellung des vorangegangenen Zustandes das Glück während für den anderen gerade deren Besiegelung zuständig war). Für die Mutter eines ausgehungerten Säuglings gilt eine andere Überwindung des Unglücks als für einen einfachen Eingestellten eines transnationalen Grosskonzerns.

Wenn ich diese Analogie weiter ausspinne (ich sage mir wirklich, dass ich sie ähnlich einer Spinne ausfädele, und bin mir bewusst, dass ich sie bei zwei unterschiedlichen Spinnvorgängen zwei unterschiedliche Spinnmuster erzeuge) komme ich zu folgendem:

Unsere globalisierte Gesellschaft, der es insgesamt verdammt gut gehen könnte, besteht auf die Erzeugung des Unglücks. Diese unsere globalisierte Gesellschaft scheint, einem Ameisenhaufen ähnlich, ein lebendiges, organisches Bewusstsein, zu besitzen, welches von selbst – ohne unser persönliches Zutun – dafür sorgt, dass stets neues Unglück produziert wird, als Quelle des neuen Glücks.

Nun hat Amerika unseren neuen Präsidenten gewählt und meine Freude war unermesslich und ich muss eingestehen, dass ich nicht in der Lage war der Müdigkeit nachzugeben, bevor es zweifelsfrei stand, dass wir durch waren und wir unseren ersten schwarzen Präsidenten hatten.

Leider haftete meiner Freude den Beiklang einer anständigen Trauer, unser Präsident wird versagen, er wird unsere Hoffnungen nicht verwirklichen können, weil sie nicht zu verwirklichen sind. Wir erwarten von ihm Unmögliches, und die Verwirklichung von Unmöglichem ist bekannt nur den Göttern gegönnt. Ich hoffe, für unseren ersten schwarzen Präsidenten, dass er um das Schicksal unserer Helden bescheid weiss und Abhilfe für die Zeit nach der Euphorie eingeplant hat. Da er bekanntlich ein guter Jurist geworden ist, glaube ich dass er das Beste aus unserer Sache mit Anstand und Lässigkeit schon drehen wird, auch wenn wir stets an der Kippe des Untergangs schaukeln.

Dienstag, 28. Oktober 2008

the Swingin´Fritz (on Martin Walser)...

Mensch, eigentlich sollte meine morgentliche Spiegel-lektüre der Aufspannung eines neuen Tages dienen!
Na ja, ein Paar Gedankenfetzen zur Musik und Genealogie kann auch nicht schaden.
Also, dieser swingin´Fritz, der besagte Martin Walser, behauptete in "Capital", Heinrich von Pierer, der frühere Vorstands- und Aufsichtsratschef von Siemens, sei "in den Medien mehr oder weniger zur Hinrichtung präpariert worden, ohne das wirklich etwas nachzuweisen ist". Der arme! Der Schriftsteller Walser hätte auch "angestellt" an Stelle von "nachzuweisen" schreiben können, wenn er denn gewollt, wenn er denn gekonnt, wenn er denn gewusst hätte. Aber der swingin´Fritz ist einer, der von nichts weiss, und wenn er doch etwas weiss, ist er sich sicher, dass er es nicht hätte wissen müssen, und dass für ihn gilt, dass er jenseits von Schuld und Sühne ist.
Dieser swingin´Fritz ist übrigens derselbe, der "nachdem er die bittere Erfahrung gemacht hatte, dass auch Schriftsteller ihre Einnahmen versteuern müssen" (Der Spiegel), beklagte "ich wusste seit einiger Zeit schon, dass dieser Staat ein Raubstaat ist. Da habe ich es dann zu spüren bekommen. Es gibt Kollegen, die sind wegen solcher Überlegungen in die Schweiz gezogen." Der arme!
Dieser morgentlichen Spiegellektüre verdanke ich doch mein melankolisches Lächeln, dass ein alter Mann eine sehr traurige Figur abgeben kann, nicht nur über ihn, sondern über uns, über diese Welt.

Sonntag, 31. August 2008

out of the hot ... into the cool

Cold War, Kalter Krieg.

"Der einzige Weg zur restlosen Befreiung des Menschen", behauptete 1960 Nikita Chruschtwshow, Nachfolger , Stalins im Kreml sei der Weg des Kommunismus.
Der damalige US-Präsident John F. Kennedy hielt dagegen: "Die Zukunft gehört denjenigen, die sich für die Freiheit des Einzelnen einsetzen."
Es läuft mir einen kalten Schauder über den Rücken, wenn ich daran denke, dass es mir einst bei der ersten Behauptung wärmer im Herzen war als bei der zweiten Vermutung.
Nicht dass es mir inzwischen die "Freiheit des Einzelnen" wichtiger sei als die "restlose Befreiung des Menschen" (was irgendwie eine Personenverdichtung von Freud, Marx und Nietzsche voraussetzen würde). Es ist lediglich so, dass sich in der Nähe der Apologeten der "Freiheit des Einzelnen" besser, leichter, angenehmer leben lässt als in der der Bahnenträger der "restlosen Befreiung des Menschen". Es ist eine Umkehrung der Vision des Aufklärers Goyas, als er Titel für den Capricho "El sueno de la razon produce muenstros" ersann (der Schlaf - el sueno - der Vernunft produziert Monster"), vielleicht erahnend, daß auch der Traum - el sueno - der Vernunft Monster auf die Welt setzen wird.



NOTES:
Gil Evans: Out of the cool
Gil Evans: Into the hot
Der Spiegel 25/2008

Sonntag, 3. August 2008

FREUD: on fading...

die ältesten Kindheitserlebnisse [sind] nicht mehr als solche zu haben. sondern [werden] durch `Übertragungen´ und Träume (...) ersetzt.
Siegmund Freud, Die Traumdeutung, S. 195

Dienstag, 1. Juli 2008

WILLIAM GREY: Douglas Gasking´s Proof

(1) The creation of the world is the most marvellous achievement imaginable.
(2) The merit of an achievement is the product of (a) its intrinsic quality, and (b) the ability of its creator.
(3) The greater the disability (or handicap) of the creator, the more impressive the achievement. (4) The most formidable handicap for a creator would be non-existence.
(5) Therefore, if we suppose that the universe is the product of an existent creator, we can conceive a greater being - namely, one who created everything while not existing.
6) An existing God, therefore, would not be a being than which a greater cannot be conceived, because an even more formidable and incredible creator would be a God which did not exist. Ergo,
(7) God does not exist.

Douglas Gasking

quoted: Richard Dawkins: The God Delusion, 107 f
William Grey. "Gasking's Proof". Analysis 60.4, 2000, 368-370

Freitag, 27. Juni 2008

STOP STONING

IRAN
"Der Richter wirft zuerst"
Der Teheraner Anwalt Dschabbar Solati, 40, über die Todesstrafe für seine Mandantinnen Sohre, 27, und Asar Kabiri-Nejat, 28, die in Karadsch, westlich von Teheran, gesteinigt werden sollen
SPIEGEL: Obwohl Iran der Europäischen Union im Dezember 2002 zugesichert hat, die Steinigungen zu stoppen, verurteilen Gerichte vor allem Frauen noch immer zu diesem qualvollen Tod. Was wird Ihren Mandantinnen zur Last gelegt?
Solati: Beide sollen Ehebruch begangen haben. Als Beweis legte der Ehemann von Sohre dem Gericht einen Film vor, in dem die Frauen mit einem fremden Mann in einem Raum zu sehen sein sollen. Soweit mir bekannt ist, zeigt das Video keine unzüchtigen Handlungen.
SPIEGEL: Haben Sie den Film auf seine Echtheit prüfen können?
Solati: Nein, die angeblichen Beweisaufnahmen selbst durfte ich nicht sehen.
SPIEGEL: Die Frauen sollen dafür aber schon einmal verurteilt worden sein?
Solati: Wegen "illegaler Beziehungen" erhielten meine Mandantinnen schon 99 Peitschenhiebe. Das Urteil wurde auf dem Gelände des Gerichts vollstreckt, die Frauen kamen aber danach nicht frei. Sechs Monate später hat ein anderer Richter den Fall wieder aufgerollt.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie das Urteil noch abwenden können?
Solati: Das hoffe ich. Auch nach iranischem Recht darf niemand für dasselbe Verbrechen zweimal verurteilt werden.
SPIEGEL: Wann wurde zuletzt in Iran eine Steinigung vollzogen?
Solati: Vor einigen Monaten wurde bei Ghaswin ein Mann gesteinigt, weil er Ehebruch begangen hatte. Das ist der häufigste Grund für diese Todesstrafe.
SPIEGEL: Wie wird die Steinigung durchgeführt?
Solati: Die Vollstreckung findet im Freien statt. Die Frauen sind bis zur Brust eingegraben, die Männer bis zur Hüfte. Nach Paragraf 104 unseres Strafgesetzbuchs dürfen die Steine nicht zu groß sein. Den ersten darf der Richter werfen. Er sorgt auch für einen Mindestabstand zum Opfer: Es soll nicht schon durch den ersten oder zweiten Stein sterben. Andererseits müssen die Steine so groß sein, dass sie schwere Schmerzen zufügen und die Verurteilten an inneren oder äußeren Blutungen sterben. Zuschauen darf jeder, man muss nur gläubig sein.
SPIEGEL: Auch an Kindern wird diese Todesstrafe vollstreckt.
Solati: Gemäß der Scharia, der islamischen Rechtsprechung, sind in Iran Mädchen mit 9 Jahren und Jungen mit 15 Jahren volljährig und damit strafmündig. Da Steinigung überwiegend bei Sexualdelikten praktiziert wird, kommt sie für Kinder eigentlich nicht in Frage. Die in Iran häufigste Todesstrafe ist das öffentliche Aufhängen, etwa an einem Baukran, und das kann auch jungen Menschen drohen.

Donnerstag, 26. Juni 2008

DER SPIEGEL: Macht der Ohnmacht

Tibetischer Gottkönig, Friedensnobelpreisträger, spiritueller Superstar, von Chinas Kommunisten gehasst, im Westen verehrt: Der Dalai Lama, der jetzt Deutschland besucht, ist hier populärer als der deutsche Papst, der Buddhismus genießt mehr Sympathien als das Christentum. Was hat die Religion zu bieten? Und wer ist der Mensch hinter dem Klischee? Von Erich Follath, Der Spiegel 16.07.2007

„Für die InstantErleuchtung brauchen Sie eine Spritze“.

Versuchen Sie es zunächst mit einer Religion aus Ihrem Kulturkreis, beispielsweise mit dem Christentum, bevor Sie sich an die komplexen Rituale des tibetischen Buddhismus heranwagen“

Budhismus bedarf nicht der Organisation, der Institution.
Dalai Lama (im Mongolischen "Ozean der Weisheit")
"Ich bin für Sie, was Sie wollen, das ich für Sie bin"

Lhasa hatte 1959, als der Dalai Lama aus seinem Amtssitz fliehen musste, nach dessen Schätzung „etwa 30 000 Einwohner, davon 10 Ausländer“. Heute zählt die Stadt etwa 400 000 Einwohner, davon sind weit mehr als zwei Drittel „Ausländer“. Chinesen, teils zwangsgesiedelt, teils angelockt von Steuergeschenken der KP.

Kalsang Phuntsok, 43, der zornige Chef des Tibetan Youth Congress über die Tibeter: "Wir sind
wie die Pandabären der internationalen Politik, jeder mag uns, keiner tut etwas für uns.“
Das tibetische Staatsorakel.
Die Geschichte um die Panchen Lamas ("kostbare Lehrer"):
Im Mai 1995 hat der Dalai Lama in seinem indischen Exil den kleinen Jungen Gedhun Choekyi Nyima als Wiedergeburt des verstorbenen Panchen Lama erkannt (oder bestimmt, je nach Weltanschauung).
Die politischen Führer der Volksrepublik China ließen den Sechsjährigen mitsamt seinen Eltern durch Geheimpolizisten aus seinem Dorf entführen und brachten ihn nach Peking. Seitdem verweigern die Behörden jede Auskunft über den Jungen. Im April 2007 hat Choekyi, der oft als
„jüngster politischer Gefangener der Welt“ bezeichnet wurde, irgendwo seinen 18. Geburtstag gefeiert – „wenn er denn noch lebt“, wie der Gottkönig beim Interview in Dharamsala sagt.
Wenige Monate nach der Entscheidung von 1995 ist die politische Führung der Volksrepublik selbst aktiv geworden: Sie suchte einen eigenen Panchen Lama aus. Er stammt aus demselben tibetischen Distrikt Lhari wie sein Konkurrent, ist aber das Kind zweier als zuverlässig geltenden Parteimitglieder, die den Buddhismus eher nebenbei betrieben. Um dem Prozess einen Anschein religiöser Legitimität zu geben, griffen die Machthaber auf alte tibetische Rituale zurück und ließen bei einer feierlichen Zeremonie aus einer goldenen Urne Lose ziehen – eine Weltpremiere: die Wiedergeburt von kommunistischen Gnaden.

„Vielleicht gibt es ja bald sogar zwei Dalai Lamas, einen von Pekings Gnaden und einen, den das tibetische Volk in seinem Herzen trägt“, sagt der König-ohne-Land in seinem Exil. Und spricht dann erstmals detailliert über sein Vermächtnis: Er kann sich vorstellen, dass der nächste – der wahre – Dalai Lama außerhalb Tibets gefunden werden könnte, in der indischen Exilgemeinde, aber auch irgendwo im Westen.
Er gibt sich als „halber Marxist“ zu erkennen:
„Buddhismus und Marxismus weisen gemeinsame Grundzüge auf, auch wenn das im Alltag sogenannter kommunistischer Staaten selten erkennbar geworden ist. Der Urmarxismus hat sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie man den Ertrag aus der Arbeit gerecht verteilen ann – das entspricht dem Gebot meiner Religion.“

Ein Mann wie eine Mischung aus Mahatma Gandhi, Karl Marx – und Groucho Marx. Ein weiser Clown.

Mittwoch, 18. Juni 2008

DER SPIEGEL: Diktatur der Unschuldigen

Wie stellen die Deutschen sich eine gute Kindheit vor? Immer mehr Eltern verzweifeln an ihren kleinen Tyrannen. Der Bestseller eines Psychologen befeuert die Debatte um die richtige Erziehung.

Der Spiegel 20/2008, Elke Schmitter


Ein Gespenst geht um in Deutschland. Das Gespenst trägt den Namen "Kleiner Tyrann". Es ist derart gefürchtet, dass ein Buch mit dem Titel "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" des Autors Michael Winterhoff ein Bestseller geworden ist, von der "Bild"-Zeitung in Auszügen nachgedruckt.
Die Frage, wie Kinder zu erziehen sind und wie es gelingt, sie zu guten Erwachsenen zu machen, treibt die ganze Gesellschaft um.
Schulmisere und Pisa-Hysterie, "Super Nanny" und das "Lob der Disziplin", Erziehungsgeld und die Förderung von Kindertagesstätten, Kinderarmut und -verwahrlosung, schließlich die Gewalt gegen Kinder und deren Gewalttätigkeit: All das sind seit Jahren verlässlich aufregende Themen. Nie gab es bei uns weniger Kinder, und nie war die Sorge um sie so groß.
Eine subtil apokalyptisch gestimmte Gesellschaft, gebeutelt von elementaren Ängsten, befühlt am Kind die eigene Verletzlichkeit und prüft die eigene Verfassung: Wie gut (oder wie böse) sind wir "eigentlich"? Wie tauglich für die Zukunft? Und warum sind wir überfordert von einem Vorgang, der bis vor kurzer Zeit sozusagen nebenher gelang - nämlich den Nachwuchs zu erhalten und großzuziehen?
(Nach Winterhoff) häufen sich Fälle von Kindern mit elementaren Störungen - in ihrer körperlichen Kompetenz, in ihrer sprachlichen Entwicklung, in ihrem Sozialverhalten. Nach seiner Beobachtung fällt es immer mehr Kindern schwer, zur angemessenen Zeit zu laufen, zu klettern und korrekt zu sprechen; er konstatiert Mängel in der Konzentration, in der Fähigkeit, Frustrationen zu ertragen und sich auf soziale Situationen einzustellen.
Sprechende Einzelheiten - so die Tatsache, dass Erzieherinnen heute gar nicht mehr erwarten, ein dreijähriges Kind "sauber", also windelfrei in den Kindergarten aufzunehmen - ergänzen seinen allgemeinen Eindruck von zunehmender Überforderung bei Eltern und Kindern aus unproblematischen Milieus. Dabei bemerkt er viel Beschäftigung mit den Kindern und "ihren Problemen"; an gutem Willen fehlt es keineswegs. Etwas ist faul. Aber was?
Kurz gesagt, ein Missverständnis: Die Eltern wollen Partner ihrer Kinder sein. Sie gestehen ihnen mehr Freiheiten und Rechte zu, als beide Seiten brauchen und ertragen. Sie lieben sich um Kopf und Kragen, weil sie in ihren Kindern kleine, bedürftige Wesen sehen, denen sie ihre eigenen verdrängten und enttäuschten Wünsche erfüllen: nach konfliktfreiem Miteinander, nach lustbetontem Alltag, nach Entspannung und Freiheit von Zwang. Sie machen aus der Kindheit jene Wellness-Oase, nach der sie selbst sich sehnen.
Sie unterscheiden kaum zwischen sich und dem Kind. Wenn während einer Beratung eine Dreijährige auf den Schoß der Mutter klettert, ihr ins Gesicht greift, sie unterbricht, dann sieht Winterhoff nicht nur bei dem Kind ein Problem. Die Störung liegt auch bei der Mutter: Sie empfindet ihr Kind noch als Baby, quasi als eigenen Körperteil, eine unbewusste Fortsetzung ihrer selbst; sie mutet weder sich noch ihrem Kind jene Trennung zu, die da heißt: Mein Wille ist ein anderer als deiner. Und in diesem Moment zählt der meine.
Das Beunruhigende an dieser Symbiose ist nicht nur ihre gemütliche Seite, sondern auch ihr Gegenteil: Denn wenn jene Phase vorbei ist, in der Kinder, wie Welpen, zutraulich und niedlich sind, leicht zu besänftigen und nicht ganz ernst zu nehmen - dann wissen sich eben jene sanften und nachgiebigen Eltern oft nicht anders zu helfen als mit harten Worten, mit rohem Zwang oder auch Gewalt.
Die Enttäuschung, dass aus dem süßen Kleinen wie von selbst - und trotz aller Liebe - ein Tyrann geworden ist, paart sich mit der Scham, den eigenen Prinzipien untreu geworden zu sein. Man möchte weder sich noch andere dabei beobachten, wie man einen schreienden Fünfjährigen an den Händen aus dem Supermarkt schleift oder dessen widerspenstige Schwester mit einem Pudding besticht, damit sie ihr Gemüse isst. Aus der Unschuld wird Schuld.
Die fraglos autoritäre Aufzucht, der ungebrochene Gebrauch von Zwang, ist seit den siebziger Jahren mit Überzeugung verworfen. Der Befehl, die Ohrfeige, die barsche Anweisung sind weitgehend tabu. An ihre Stelle treten - wenn Verhandeln und Nachgiebigkeit nicht mehr das gewünschte Ergebnis erzielen - ohnmäch-tige Wut, Gezänk und Tränen bei allen Beteiligten. Warum will das Kind nicht, wie ich will? Ich habe doch alles versucht!
Nach Ausflügen in die antiautoritäre Erziehung hat eine tiefe Verunsicherung um sich gegriffen. Gerade in Deutschland, mit seinen Lebensreformbewegungen, seinen Pestalozzi-Straßen, in diesem Mekka der Waldorf- und Montessori-Schulen, war das Interesse an Pädagogik immer besonders stark. Die bohrende Frage, was den Nationalsozialismus möglich machte, gab ein zusätzliches Motiv, über Zwang und Selbstbestimmung nachzudenken.
Auch die deutsche Romantik beseelt eine Haltung, die das Natürliche dem Drill, das Authentische der Rolle, die Aufrichtigkeit der höflichen Lüge vorzieht. Während die Franzosen bereits Zweijährige in die Vorschule schicken und sie zum manierlichen Genuss eines fünfgängigen Menüs mit abschließendem Roquefort abrichten, zögern die Deutschen den Ernst des Lebens für ihre Kleinen hinaus. Sie sind die wahren Rousseauisten - während die Nachbarn ihren Pädagogen, der das Lob der natürlichen Entwicklung sang, getrost als Nationaldenkmal unschädlich machten. Es sind die Deutschen, die Grönemeyers "Kinder an die Macht" mit Begeisterung singen.
Winterhoffs Analyse trifft zweifellos einen Ausschnitt der Realität. Es gibt gewiss viele Eltern, die sich mit ihren Kindern gegen die Gesellschaft verbünden - indem sie etwa der Schule vor allem mit der Angst begegnen, den Kleinen werde dort Zwang angetan und das Lernen sei "nicht kindgerecht", indem sie so die Autorität der Lehrer untergraben.
Doch ist auch, genährt von der Pisa-Krise, die gegenteilige Tendenz zu bemerken: der Ruf nach Prüfungen, nach Kontrolle und Disziplin und die Behandlung des Nachwuchses als Investitionsobjekt: Wir geben dir größtmögliche Unterstützung, damit du durch Leistung und Benehmen zeigst, wie gut wir als Eltern sind.
Und das kann gefährlich sein. Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse, so argumentiert der dänische Familientherapeut Jesper Juul, richten weniger Schaden in Kinderseelen an als jener Narzissmus, der den Nachwuchs glücklich und erfolgreich sehen will, um sich selbst als kompetent zu erleben. Das gestörte Kind ist dann vor allem der Störfall der eigenen Biografie.
Juul, 60, ist eine Lichtgestalt der modernen Pädagogik und außerdem ein Mann mit Guru-Qualitäten. In Kopenhagen erteilt er Erziehungsberatung in riesigen Sälen; vor vier Jahren gründete er die Bewegung "familylab international", die Eltern praktische Hilfe geben soll**.
Im Unterschied zu vielen Kollegen betont er nicht die Schwierigkeiten, sondern die Ressourcen der Eltern-Kind-Beziehung. Der selbstquälerischen Suche nach Schuld setzt er einen gelassenen Optimismus entgegen.
Langjährige Erfahrung mit Krisen in Migrationsfamilien führte ihn zu einem Ansatz, der auf inhaltliche Normen weitgehend verzichtet: Er gibt keine Ratschläge, wann ein Kind im Bett liegen sollte, welche Disziplinierung geboten und welche verboten ist, ob und wie gemeinsame Mahlzeiten, Ausflüge und dergleichen gestaltet werden sollen.
Eine patriarchal bestimmte Familie in Südosteuropa hat andere Gewohnheiten und Erziehungsziele als eine Patchworkfamilie in Schweden, und englische Eltern legen auf andere Pflichten Wert als deutsche: Es kann also nicht darum gehen, die Werte und Normen zu diskutieren, die wir als Erwachsene mit unseren Erfahrungen mitbringen - und die in unserer Gesellschaft vorherrschend sind. Entscheidend für die Beziehung zum Kind ist nicht die Frage, wann es hilft, den Tisch abzuräumen, und wie viel Spielzeug im Kinderzimmer liegt; entscheidend ist, dass die Erzieher ihre Wünsche authentisch vertreten.
Wenn sie mit dem einverstanden sind, was sie tun, ist Juuls Botschaft, dann werden es auch ihre Kinder sein. Und wenn sie Wege finden, ihnen ihre Liebe und Fürsorge so zu zeigen, dass sie sie verstehen, dann ist Erziehung - immer noch kein Kinderspiel. Aber ein Prozess, der Spaß machen kann und der sie und das Kind verbindet.
In den praktischen Konsequenzen ist Juul oft nahe bei guten Erziehungsklassikern wie "Kinder fordern uns heraus", einem Ratgeber von Schülern des Individualpsychologen Alfred Adler*. Anders als sein Kollege Sigmund Freud, der seine revolutionären Erkenntnisse aus einem sehr engen gesellschaftlichen Milieu gewann, blieb der Sozialist Adler nahe an einer gemischten sozialen Realität. Auch interessierte ihn weniger die Genese traumatischer Entwicklungen als eine Verhaltenslehre der Wärme und Freiheit: Wie können Menschen, so wie sie nun einmal sind, gut miteinander umgehen? Und wie nehmen Eltern ihre Verantwortung als Erzieher wahr, ohne sich und dem Kind Gewalt anzutun?
Seit man über Erziehung nachdenkt - und das haben bereits die Griechen getan -, kämpfen Annahmen und Beobachtung miteinander. Die Frage, ob Kinder unfertige Erwachsene sind oder Wesen anderer Art, hat jede Epoche anders beantwortet. In seiner fundamentalen "Geschichte der Kindheit" beschreibt der Historiker Philippe Ariès die französische Entwicklung ausgehend vom Mittelalter, da Kinder noch nicht Gegenstand sorgender Pädagogik waren, sondern mehr oder minder verhätschelte Babys, bis sie mit etwa sieben Jahren ihren Platz in der Erwachsenenwelt einnahmen - durchweg in fremden Familien, als Lehrlinge des Lebens.
Erst die Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaft brachte jene Veränderungen
mit sich, die unser Zusammenleben heute noch bestimmen: Die Familie entwickelte sich von einem Ort der Organisation zu einem emotional dichten Feld; die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern wurden wichtiger und inniger. Die Schule etablierte eine Phase im menschlichen Leben, in der Gleichaltrige in einer speziellen Situation gehalten und unterrichtet wurden; eine Auffassung setzte sich durch, die Kindheit und Erwachsenenleben als Gegensätze verstand.
Das Kind wurde ein Spezialfall des Menschen - je nach gesellschaftlicher Konjunktur eher unschuldig und schützenswert oder Objekt von Zucht und Formung.
Gegenwärtig sind mehrere Extreme zu beobachten. Die Familie erlebt eine Renaissance, sie wird, zunehmend realitätsfern und idealisiert, als Kuschelzone gegen eine feindselige Umwelt in Szene gesetzt (zehn Minuten Werbefernsehen würden einem Marsbewohner für diesen Befund reichen). Das Kind ist zum Inbegriff des zu hätschelnden Privaten geworden: natürlich und bezaubernd, reich an Möglichkeiten und Kreativität. Wenn man es nur ließe, würde es ein Genie! Kinderfahrkarten in der Bahn, selbstverständliche Verkitschung einfachster Gebrauchsgegenstände wie Schuhe, Anoraks, Schulranzen und Teller zu Zonen des Niedlichkeitsterrors, eine rauschende Beschäftigungs- und Belehrungsindustrie machen aus der Kindheit einen kirmesbunten Wartesaal vor dem schrecklichen Ernst des Lebens. So gesehen, scheinen wir nicht viel von unserem Alltag zu halten.
Die Idealisierung der Familie zieht auch die größten Enttäuschungen nach sich - nicht nur in Form von Trennung und Scheidung, sondern auch in der fassungslosen Erfahrung, dass so etwas scheinbar Selbstverständliches wie die Aufzucht von Kindern in einer materiell gesättigten Welt sich als heikel oder sogar schwierig entpuppt.
Und nicht zuletzt haben Neurologie und Psychologie enorme Fortschritte gemacht, die zeigen, dass schon Säuglinge wahrnehmungsfähiger sind als gedacht. Die forschungsgestützte Einsicht, dass man Kinder zu Recht Wunder an Komplexität nennen kann, hat aus ihnen Wunderkinder gemacht, denen die Erwachsenen zunehmend befangen begegnen.
Die Anbetung des Naturzustands und die unbewusste Trauer über das, was aus ihnen hätte werden können, halten viele Erwachsene in einer Erstarrung aus Andacht und Hilflosigkeit - ein Krisensymptom. In die alte Bedenkenlosigkeit führt kein Weg mehr zurück, doch für die neue Verantwortlichkeit gibt es guten Rat.
ELKE SCHMITTER
MATERIALS
Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit

Montag, 5. Mai 2008

Forscher entziffern die Geheimsprache des Gehirns

DER SPIEGEL 14/2008 vom 31.03.2008, Seite 132
Autor: Jörg Blech

Die Sprache des Gehirns
Gedankenlesen, Gedächtnispillen, Hirnprothesen - all das klingt nach Science-Fiction und wird doch in den Labors der Neurowissenschaftler bereits Wirklichkeit. Forscher stehen davor, den Code zu knacken, mit dem Ideen und Erinnerungen im Hirn verschlüsselt sind.


Es ist ein seltsamer Anblick, wie Joe Tsien das größte Rätsel der Hirnforschung lösen will: Der Molekularbiologe stöpselt einer Maus ein Kabel an den Kopf und setzt das Tier sodann in einen Kasten aus Plexiglas. Die Box befestigt Tsien an einer weißen Kordel, zieht den Miniaturaufzug über eine Rolle in die Höhe - und lässt los: Einen halben Meter saust die Maus in die Tiefe; einige Lagen Küchenrolle dämpfen den Aufprall.
"Muss es sich nicht so anfühlen, wenn man mit einem Fahrstuhl in die Tiefe rast?", fragt Tsien. Und der Mann hat noch weitere künstliche Katastrophen auf Lager. Den Luftzug durch das Flügelschlagen einer Eule simuliert der aus China stammende Gelehrte, indem er einer Maus einen Luftstoß aus einer Pressluftflasche auf den Rücken bläst: "Pfffft", macht es. In Panik huscht die Maus davon.
Dann gaukelt der Professor vom Medical College of Georgia im amerikanischen Augusta seinem Versuchstier ein Erdbeben vor: Einen Plexiglaskasten mit einer verkabelten Maus darin drückt er dazu auf eine brummende Schüttelmaschine und lässt sie 200 Millisekunden lang vibrieren.
"Für die Tiere sind das gravierende Erlebnisse", erklärt Tsien, 46. "Ich will enträtseln, wie sich die Erinnerungen daran in ihrem Gehirn ablegen."
Zu diesem Zweck laufen die katastrophenerprobten Mäuse so sonderbar verkabelt herum. 96 Elektroden stecken jeweils in einem Kopf und haben direkten Kontakt mit Nervenzellen des Hippocampus - also jener Hirnregion, die als Portal der Erinnerung gilt.
Vom Schädel führt das Kabel in die Höhe, wo es an einem mit Helium gefüllten Ballon hängt: Dank dieser Schwebekonstruktion verheddert sich das Tier nicht in der Strippe. Vom Ballon führt das Kabel schließlich zu einem Hochleistungsrechner: In Echtzeit können Tsien und seine Kollegen die elektrische Aktivität von bis zu 260 einzelnen Nervenzellen messen.
Dutzenden Mäusen hat Tsien bereits mit seinen Labor-Katastrophen mitgespielt. Die Nervenzellen feuerten "schnell und stürmisch" (Tsien) - und hinterließen einen Datensatz, so riesig, dass sich die Forscher zunächst keinen Reim darauf machen konnten. Nach den ersten Tierversuchen mussten Tsien und sein Kollege, der Mathematiker Remus Osan, die scheinbar wirren Muster ein ganzes Jahr lang analysieren und analysieren und analysieren. Dann erst stand fest: In den Gehirnen unterschiedlicher Mäuse werden die jeweiligen Katastrophen in verblüffend ähnlicher Weise verarbeitet und abgespeichert.
"Die mathematischen Beschreibungen dieser Muster sind alle gleich, egal ob sie von Maus A, B oder C stammen", sagt Tsien. Das aber heißt umgekehrt: Die Forscher können im Gehirn einer beliebigen Maus lesen. Denn anhand der Muster können sie nun umgekehrt sagen: Dieses Tier hat ein Erdbeben erlebt. Oder es wurde von einer Eule angegriffen.
"Das bedeutet", sagt Tsien, ein zierlicher Mann in kariertem Hemd und Leinenhose, "wir können in die Erinnerung der Mäuse schauen."
Eine, die sich ebenfalls in fremden Gehirnen umschaut, ist die Psychologin Svetlana Shinkareva. Im ersten Stock des Palmetto Health Richland Hospital in Columbia, South Carolina, öffnet sie eine Tür mit der Aufschrift "Vorsicht! Starker Magnet jederzeit angeschaltet" und zeigt auf ein nagelneues Kernspin-Gerät von Siemens. In der engen Röhre liegt eine junge Probandin, die über zwei kleine Spiegel auf einen Monitor schaut.
Kaum hat Shinkareva, 33, die Tür von außen verriegelt, setzt sich um die Testperson herum der Kernspin dröhnend in Gang. In der linken Hand hält sie einen Panikknopf; den kann sie drücken, falls sie in der Röhre Platzangst kriegen sollte. Doch die Frau liegt entspannt und sieht jetzt drei Wörter, die auf dem Monitor auftauchen: "Gnade", "Sympathie", "Mitleid". Der Kernspin überwacht unterdessen jeden Winkel ihres Gehirns: Präzise protokolliert die Maschine, wo sich darin wie stark die Durchblutung verändert.
Mit diesen und anderen Versuchen bereitet Shinkareva eine neue Studie vor, in der sie herausfinden will, mit welchen neuronalen Prozessen abstrakte Begriffe im menschlichen Gehirn verarbeitet und gespeichert werden.
Lehrreiche bunte Bilder des Denkorgans hat die Forscherin allerdings nicht sofort parat. Der Rechner im Nebenraum spuckt lediglich einen Zahlensalat aus, der ohne Hilfsmittel nicht zu verdauen ist. "Ich brauche einen halben Tag, bis ich die Daten ausgewertet habe", seufzt Shinkareva, die in Moskau aufgewachsen ist und dann in den USA Statistik und Psychologie studiert hat.
In den vergangenen Monaten hat Shinkareva besonders viele Abende und Wochenenden am Computer verbracht. Und ihre Mühe, so scheint es, wurde mit einer Sensation belohnt: Die emsige Neurowissenschaftlerin kann nun Gedanken lesen.
Nicht weniger geht aus jener Studie hervor, die Shinkareva kürzlich mit Kollegen der Carnegie Mellon University in Pittsburgh im Fachblatt "PLoS One" vorgelegt hat. Die Forscher hatten jeweils elf gesunden Testpersonen Zeichnungen von fünf Werkzeugen (wie Hammer oder Bohrer) und von fünf Behausungen (wie Burg und Iglu) gezeigt und unterdessen ihre Gehirne durchleuchtet.
Dank ihrer Rechner hat Shinkareva einen Weg entdeckt, den Code des Gehirns zu entziffern. Denken zwei Menschen an einen Hammer, so erzeugen beide Hirne ähnliche Signalmuster - dies ist der erste experimentelle Hinweis darauf, dass in allen Gehirnen Bilder von Gegenständen verblüffend gleich verarbeitet werden.
Eindrucksvoll bestätigt hat sich dies, als die Forscher die Versuchsbedingungen weiter erschwerten. Im nächsten Schritt versuchten sie, die Gedanken ihrer Testpersonen allein aus den Kernspin-Mustern zu entschlüsseln. Und siehe da: Mit einer Zuverlässigkeit von 78 Prozent konnten sie sagen, ob der Mensch in der Röhre an einen Hammer oder an eine Zange dachte. Bei einem Probanden lag die Trefferquote sogar bei 94 Prozent.
"Im Prinzip", sagt Shinkareva, "können wir anhand der Hirnaktivität erkennen, was ein Mensch gerade denkt."
Unversehens rückt damit eine Vision näher, die Sehnsucht und Urangst der Menschheit gleichermaßen ist: Gedankenlesen, Gedächtnispillen, Hirnprothesen - all das scheint plötzlich in Reichweite zu kommen. Zugleich aber zeichnet sich am Horizont die Möglichkeit totalitärer Überwachung ab, wie sie George Orwell in "1984" beschrieb: Der "Große Bruder" kontrolliert in dem Roman des britischen Autors mit Hilfe von Televisoren alle Regungen der Untertanen. Und wer auch nur im Geiste den Aufstand wagt, wird bestraft - wegen eines Gedankenverbrechens.
Im famosen Science-Fiction-Film "Matrix" wiederum sind fast alle Menschen an ein weitverzweigtes Computerprogramm angeschlossen: Sie leben, überwacht von einer Maschinenintelligenz, in einem künstlichen Universum, eben der Matrix. Wie ferngesteuert existieren die Menschen vor sich hin und merken gar nicht, dass sie unterjocht werden von superintelligenten Robotern.
Schritt für Schritt wird nun in den Labors Wirklichkeit, was eben noch pure Science-Fiction war. Fast im Wochentakt berichten Hirnforscher über neue, aufregende Experimente. Anfang März etwa meldeten US-Neurowissenschaftler im Wissenschaftsmagazin "Nature": Aus den Hirndaten könne man auch lesen, was für ein Bild ein Mensch gerade betrachtet - ich sehe das, was du siehst. Eines Tages, frohlockt der an den Versuchen beteiligte Psychologe Jack Gallant, "könnte es sogar möglich sein, den bildlichen Inhalt von Träumen zu rekonstruieren".
Diese Durchbrüche bringen jetzt Bewegung in ein Feld, in dem bis vor gar nicht langer Zeit noch pure Ratlosigkeit herrschte. Zwar verrieten winzige Elektroden und tonnenschwere Kernspin-Geräte, welche Hirnregion gerade aktiv ist, wenn ein Mensch redet, Auto fährt oder Sex hat. Doch auf die entscheidende Frage blieb die Antwort aus: Für welche konkreten Inhalte stehen die verwirrenden Signale eigentlich?
Das ändert sich jetzt. "Jeder Gedanke geht mit einem eigenen Muster von Hirnaktivität einher: mit einem jeweils einzigartigen, unverwechselbaren Gedankenabdruck", sagt John-Dylan Haynes, ein junger Neurowissenschaftler, der am Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin arbeitet und zugleich eine Gruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig leitet: "Seit einiger Zeit können wir Computerprogramme schreiben, die diese Muster erkennen. Wenn man ein solches Gehirnmuster vorfindet, weiß man, was eine Person gerade denkt."
Je mehr die Forscher solche Software ausprobieren und verfeinern, desto verblüffender ihre Ergebnisse. In noch unveröffentlichten Experimenten, sagt der US-Psychologe Marcel Just, sei er sogar einem allgemeinen Zusammenhang zwischen Gedanken und ihrem Abbild im Gehirn auf der Spur. "Wir haben eine Theorie, mit der wir das Gedankenmuster eines Wortes vorhersagen können", erklärt Just, 60, mit aufgeregter Stimme. Und etwas leiser fügt er hinzu: "Vielleicht haben wir den Code des Gehirns geknackt."
So wie einst die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick die Struktur des Erbmoleküls aufklärten und so die Voraussetzung für das Verständnis des genetischen Codes legten, so hoffen jetzt Tsien, Shinkareva, Haynes, Just und andere, dabei zu sein, wenn ein noch größeres Rätsel verstanden wird: Wie lautet die Sprache, mit der Gedanken und Ideen, Bilder und Erinnerungen, Freude und Trauer im Denkorgan verschlüsselt werden?
"Das Gehirn benutzt bestimmte Regeln, um elektrische Aktivität in Wahrnehmungen, Erinnerungen, Wissen und Verhalten umzuschreiben", sagt Tsien. "Und wenn wir diesen Code einmal verstanden haben, dann können wir die ganze Information im Hirn lesen."
Der Hirnforscher Anders Sandberg von der University of Oxford etwa meint es ernst, wenn er verkündet: "Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass wir unsere Gehirne eines Tages auf einen Computer laden können - was uns eine Art von Unsterblichkeit bescheren wird."
Andere Forscher stimmt das nachdenklich. Geraint Rees vom University College in London beispielsweise warnt vor einer Zukunft, in der Gedanken nicht mehr frei sein werden. In Deutschland wiederum ist es der Max-Planck-Forscher Haynes, 37, der eine breite Diskussion für überfällig hält: "Sie können sich als Forscher gar nicht auf dieses Feld einlassen, ohne die ethischen Belange zu diskutieren."
Wären Apparaturen zum Gedankenlesen nicht in der Tat bestens geeignet, Untertanen auszuspionieren? Könnten solche Hirndurchleuchter auch Marketingstrategen dazu dienen, die Sehnsüchte und Schwächen der Konsumenten auszuspionieren und ihnen auf diese Weise das Geld aus der Tasche zu ziehen? Und würden Militärs die Verschmelzung von Mensch und Maschine nicht nutzen wollen, um kybernetische Organismen, Cyborgs, in die Schlachten der Zukunft zu schicken?
Andererseits könnten solche Geräte auch dazu beitragen, Verbrecher der Lüge zu überführen oder kranken Menschen zu helfen. Psychologe Just hat in Pittsburgh bereits die Gehirne von zwölf Autisten im Kernspin untersucht. Er sagt: "Wir wollen verstehen, ob Denkvorgänge bei Autisten anders ablaufen als bei Gesunden."
Aber auch Menschen, die in einem gelähmten Körper gleichsam eingekerkert sind und nicht sprechen können, öffnet sich womöglich ein Tor, durch das sie erstmals wieder mit der Außenwelt in Verbindung treten können. Noch sind Totalgelähmte wie Jean-Dominique Bauby, dessen Geschichte derzeit der vielfach gerühmte Kinofilm "Schmetterling und Taucherglocke" erzählt, auf winzige Bewegungen von Augenlidern oder Fingerspitzen angewiesen, wenn sie sich mitteilen wollen. Doch nun entwickeln Ärzte und Informatiker in Tübingen und in Berlin Apparate, die als Schnittstelle zwischen Maschinen und Gehirnen dienen sollen (siehe Kasten Seite 142).
Schließlich verbirgt sich hinter all den möglichen Anwendungen die Aussicht, eines der größten Menschheitsrätsel überhaupt zu lösen: "Den neuralen Code zu knacken bedeutet zu verstehen, wer wir eigentlich sind", verkündet Miguel Nicolelis von der Duke University in Durham, North Carolina. "Unser Vermögen zu sprechen, zu lieben, zu hassen und die Welt um uns herum wahrzunehmen sowie unsere Erinnerungen, unsere Träume, ja sogar die Geschichte unserer Art sind entstanden aus dem Zusammenspiel vieler kleiner elektrischer Signale, die sich in unserem Gehirn ausbreiten wie ein Gewitter, das in einer Sommernacht über den Himmel fegt."
Wie diese Ströme dazu führen können, dass Gefühle, Bilder und Dialoge im Gehirn nicht nur niedergelegt werden, sondern sich auch gezielt und mit rasender Geschwindigkeit wieder abrufen lassen, darüber zerbrechen sich die Neurowissenschaftler seit mehr als hundert Jahren den Kopf.
Der spanische Neuroanatom Santiago Ramón y Cajal (1852 bis 1934) gehörte zu den Ersten, die ahnten, dass es eine Frage elektrischer Kontakte ist: Die Speicherung von Information geht einher mit veränderten Verbindungen zwischen den Nervenzellen, an den sogenannten Synapsen.
Ein halbes Jahrhundert später entwickelte dann der kanadische Psychologe Donald Hebb diese Vorstellung weiter: Nervenzellen, die im gleichen Augenblick elektrische Signale abfeuern, stärken ihre Verbindungen untereinander. Auf diese Weise werden Erinnerungen ins Nervenzellgeflecht eingeschrieben.
Mit einem speziellen Mikroskop gelang es schließlich dem Physiker Tobias Bonhoeffer und seinen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München, diese Veränderungen sogar sichtbar zu machen: Wenn eine Nervenzelle angeregt wird, dann sprießen auf ihrer Oberfläche winzig kleine Dornen, wachsen auf andere Nervenzellen zu und docken dort an. Lassen die Reize nach, dann bilden sich diese Dörnchen wieder zurück.
"Zum ersten Mal konnten wir live beobachten, wie das Gehirn beim Lernen seine Verschaltungen ändert", erinnert sich Bonhoeffer.
So faszinierend solche Einblicke in die Mikrowelt der Zellen auch waren - das Bild fürs Große konnten sie zunächst nicht entscheidend erhellen. Die Erkenntnis, dass Signale von einer Nervenzelle zur nächsten fließen, sagt nichts darüber aus, was diese Signale tatsächlich bedeuten - und schon gar nichts darüber, wie große Verbände von Nervenzellen zusammenarbeiten, wenn das Gehirn die Erinnerung an eine Alpenwanderung oder einen Urlaubsflirt ablegt und sie beim Blick ins Fotoalbum später wieder wachruft.
Unvermittelt wecken Gerüche Kindheitserinnerungen, die man längst vergessen wähnte; Déjà-vu-Erlebnisse tauchen auf wie aus dem Nichts. Die Erinnerung, so hat es der Schriftsteller Cees Nooteboom formuliert, gleicht einem Hund, der sich hinlegt, wo er gerade will.
Wie sehr das Gedächtnis einer Wundertüte gleicht, das haben US-Ärzte kürzlich erst wieder mit einem verblüffenden Experiment gezeigt. Weil sie hofften, so den Appetit zügeln zu können, pflanzten sie einem fettsüchtigen Mann Elektroden ins Gehirn - was zwar seinen Heißhunger kaum bremste; stattdessen aber erlebten die Ärzte eine Überraschung: Mit ihrem Eingriff hatten sie versehentlich die Zeit im Kopf ihres Patienten um 30 Jahre zurückgedreht. Der Mann sah auf einmal vor sich, wie er als Jüngling mit Freunden durch einen Park streifte. Deutlich konnte er die Kleidung der anderen und die Farbe des Himmels erkennen.
Wie solche Phänomene zu erklären sind, konnten Forscher bis vor kurzem kaum studieren. Ihre Methoden erlaubten ihnen nur die Untersuchung winziger Details im Hirngeflecht. Um das Große und Ganze zu erfassen, fehlten die technischen Möglichkeiten. "Wenn Sie auf einem Foto immer nur einen Ausschnitt in Millimetergröße betrachten", erläutert der Berliner Forscher Haynes, "dann werden Sie darauf nicht einmal erkennen können, ob eine Frau oder ein Mann abgebildet ist."
Nun aber sind Rechenprogramme verfügbar, mit denen das ganze Gehirn auf einen Schlag untersucht werden kann. "Multivariate Mustererkennung" oder auch "maschinelles Lernen" heißen die Zauberwörter. Der Trick der entsprechenden Software liegt darin, dass sie von allein immer besser darin wird, komplexe Datenmengen schnell zu analysieren. Je länger das Analyseprogramm also rechnet, desto schlauer wird es auch. So lassen sich auch äußerst verwirrende Signalmuster entschlüsseln, die bislang keinen Sinn ergaben.
Der Berliner Hirnforscher Haynes und Kollegen in London und Tokio waren die Ersten, die selbstlernende Computerprogramme einsetzten und auf diese Weise Gedankeninhalte dechiffrierten. Die Wissenschaftler legten gesunde Probanden in ein Kernspin-Gerät und wiesen diese an, sich zu entscheiden, ob sie zwei Zahlen, die ihnen gleich gezeigt würden, lieber addieren oder subtrahieren wollten.
Ergebnis: In 71 Prozent der Fälle konnten die Forscher die Absicht der Testpersonen erkennen, noch bevor diese die Zahlen überhaupt zu sehen bekamen, geschweige denn zu rechnen begannen - die geheimen Absichten des Gehirns waren sichtbar gemacht.
Die charakteristischen Gedankenmuster sind bei den Testpersonen zwar nicht identisch, aber deutlich nach dem gleichen Muster verteilt, hat dann die Gruppe um Svetlana Shinkareva herausgefunden. Der Gedanke an einen Hammer etwa kann nur entstehen, wenn neben dem Hippocampus noch ungefähr zehn weitere Hirnregionen aktiv werden - ein Gedanke hat demnach keinen festen Sitz im Kopf; er ist vielmehr eine über das ganze Gehirn verstreute Erscheinung.
Dieses Ergebnis passt faszinierenderweise genau zu jenen Mustern, die der Neurowissenschaftler Tsien in den Gehirnen seiner Mäuse gefunden hat. Wenn die Tiere eines der Schreckereignisse im Gehirn verarbeiten und im Gedächtnis ablegen, dann spielen jeweils Nervenzellen aus unterschiedlichsten Winkeln des Oberstübchens zusammen - sie bilden einen Zellverband.
Einzelne Zellgruppen eines solchen Verbands speichern dabei ganz bestimmte Teilaspekte des simulierten Erdbebens ab: Einige springen auf übergeordnete Eigenheiten des Erlebnisses ("Schreck") an, andere auf spezifische ("zitternde Wände"). Diese Nervenzellgruppen kann man sich wie eine Pyramide vorstellen, an deren Basis die allgemeinen Informationen stehen und an der Spitze die speziellen (siehe Grafik Seite 138).
Für diese hierarchische Organisation des Gedächtnisses sprechen auch die Befunde des amerikanischen Neurowissenschaftlers und Hirnchirurgen Itzak Fried. Er hat vielen Menschen, die unter einer Epilepsie leiden, im mittleren Schläfenlappen dauerhaft Elektroden eingepflanzt - so kann er genau jene Stellen der Hirnrinde ausfindig machen, von denen die epileptischen Anfälle ausgehen.
Eines Tages ging Fried und seinen Kollegen jedoch auf: Ihre dauerhaft verkabelten Patienten boten eine einzigartige Gelegenheit, die Aktivität einzelner Zellen zu studieren. Alsbald fanden sich einige der Epileptiker vor einem Bildschirm wieder, auf dem ihnen im Sekundentakt menschliche Gesichter gezeigt wurden. Zur gleichen Zeit zeichneten die Forscher die elektrischen Signale der angezapften Nervenzellen auf.
Gleich zwei Überraschungen kamen heraus: Zum einen waren viel weniger Nervenzellen aktiv als gedacht. Zum anderen waren manche der feuernden Neuronen äußerst wählerisch. Im Mandelkern einer Frau zum Beispiel gab sich eine einzelne Nervenzelle immer dann zu erkennen, wenn ein Foto des früheren US-Präsidenten Bill Clinton im Blickfeld erschien. Wurde aber zum Beispiel dessen Nachfolger George W. Bush gezeigt, blieb die Zelle stumm.
Bei einer anderen Testperson fand sich im rechten Hippocampus eine einsame Nervenzelle, die ausschließlich auf die glutäugige Schauspielerin Halle Berry ansprang. Ob die Frau nun im Katzenkostüm erschien oder im Bikini dem karibischen Meer entstieg - stets flammte das Signal auf. Selbst als die Forscher nur ihren Namen einblendeten, fühlte sich die "Berry-Zelle" angesprochen.
Eine große Zahl von Nervenzellen ist demnach zuständig für die grobe Gesichtserkennung. Die genauere Analyse der Mimik wird von einer kleineren Schar Spezialisten übernommen - bis schließlich die "Halle-Berry-Zelle" feuert und damit signalisiert: Person erkannt!
Das alles bestätigt Tsiens Experimente, die darauf hinweisen, dass Gedanken und Gedächtnisinhalte hierarchisch aufgebaut und abgelegt werden. Dieses ausgeklügelte Speicherverfahren könnte ein uraltes Problem der Gedächtnisforschung auflösen: Wie kann es eigentlich sein, dass die unermessliche Zahl von Gedanken und Erinnerungen, die einem Menschen im Laufe des Lebens durch den Kopf gehen, überhaupt in diesen drei Pfund schweren Gewebeklumpen passen? Würde darin jedes Erlebnis neu abgelegt, wäre der neuronale Speicher bald voll.
Also werden offenbar kleine, bereits gelernte Aspekte je nach Bedarf miteinander kombiniert, postuliert Tsien: "Dadurch wird es möglich, eine unglaublich große Menge an Information im Gehirn zu speichern." Mehr noch: Zugleich liefert das Modell eine elegante Erklärung, warum Menschen aus ihrer Erfahrung lernen können: Sie greifen auf die alten, bereits erlernten Aspekte zurück und kombinieren diese, um sich vorzustellen, was die Zukunft bringen könnte.
Auf just diesen Zusammenhang sind andere Gedächtnisforscher kürzlich in eigenen Studien gestoßen: Das Gestern und das Morgen sind demnach in der Gedankenwelt ganz eng miteinander verwoben.
Die Psychologin Eleanor Maguire vom University College London etwa ist auf das Phänomen gestoßen, als sie fünf Männer untersuchte, die aufgrund eines verletzten Hippocampus unter massivem Gedächtnisschwund leiden. Diese Patienten forderte Maguire nun auf, sich vorzustellen, sie lägen auf einem weißen Sandstrand in einer wunderschönen Südseebucht. Zehn gesunden Kontrollpersonen stellte sie dieselbe Aufgabe.
Letztere begannen sofort zu fabulieren: Von Palmen berichteten sie und von süßen Früchten und Winden, die ihnen durchs Haar strichen. Den hirnkranken Studienteilnehmern dagegen fehlte jede Vorstellung: "Also, das Einzige, was ich sehen kann, ist blau", sagte einer.
Das fügt sich zu dem, was der Psychologe Daniel Schacter von der Harvard University bei Kernspin-Untersuchungen festgestellt hat: Er bat gesunde Studenten, sich ein Ereignis ins Gedächtnis zu rufen, das sie in den vergangenen Wochen tatsächlich erlebt hatten. Oder aber sie sollten sich ein entsprechendes Ereignis ausmalen, das sie aber erst in den kommenden Wochen erleben würden. Das erstaunliche Ergebnis: Viele Kernspin-Aufnahmen sahen dermaßen ähnlich aus, dass die Forscher Mühe hatten, sie auseinanderzuhalten.
"Gedächtnis wird ja immer als etwas angesehen, das mit der Vergangenheit zu tun hat", erklärt Schacter. "Aber eine schnell wachsende Zahl von neuen Studien zeigt: Das Vorstellen der Zukunft und das Erinnern an die Vergangenheit gehorchen zum Großteil derselben Denkmaschinerie."
Je mehr die Forscher über diese natürliche Neuronensprache herausfinden, desto größer wird auch die Möglichkeit, damit Roboter und Computer steuern zu können. Gelähmte Menschen wie der englische Physiker Stephen Hawking könnten dann allein mit Hilfe ihrer Gedanken Roboter bedienen, Aufsätze diktieren, im Internet surfen - und vielleicht sogar ihren Körper über ein motorgetriebenes künstliches Skelett bewegen.
Der utopische Film "Firefox" aus dem Jahr 1982 zeigt, wohin die Reise gehen könnte: Ein Pilot (gespielt von Clint Eastwood) steuert die Waffensysteme eines Kampfflugzeugs mit der bloßen Kraft seiner Gedanken. Der Plot war ganz nach dem Geschmack der US-Luftwaffe - sie ließ heimlich an solchen Lenkhelmen werkeln.
Mittlerweile haben sich mehr als hundert Arbeitsgruppen in aller Welt daran gemacht, die Gehirne von Versuchstieren oder Testpersonen mit elektronischen Geräten zu verdrahten. "Diese sich rasch weiterentwickelnden Konzepte werden medizinisch und kommerziell von großer Bedeutung sein", erklärt der Neurologe und Psychiater Gabriel Curio von der Charité in Berlin - und fügt hinzu: "Sie könnten aber auch auf militärischem Gebiet Anwendung finden, so dass Gehirn-Computer-Schnittstellen heute den futuristischen Phantasien immer näher kommen."
Zu den Vorreitern gehört der aus Brasilien stammende Neurologe Miguel Nicolelis, dessen Arbeit von der US-Militärbehörde Darpa finanziert wird. An Rhesusaffen ist es ihm bereits gelungen, die elektrische Aktivität für die Bewegung des Arms in einen Computerbefehl zu übersetzen: Taucht das Signal "Arm bewegen!" im Gehirn eines Affen auf, dann rührt sich synchron dazu ein Roboterarm - Gedanken machen mobil.
Was jedoch Versuche an Menschen angeht, ist keiner weiter als John Donoghue von der Brown University, Rhode Island. Als der Neurobiologe Mitte März im Museum of Science von Boston Befunde und Filme aus seinem Labor präsentierte, stand vielen Zuschauern der Mund offen: Ein fülliger Mann liegt regungslos in einem Sessel, auf seinem Scheitel thront eine Spitze wie die einer Pickelhaube. Matthew Nagle, so der Name des Patienten, wurde bei einer Messerattacke das Rückenmark auf der Höhe des Halses komplett durchtrennt. Jetzt starrt er auf einen Bildschirm und bewegt dort einen Cursor, der Linien zeichnet. Die ersten zwei Versuche enden mit Gekrakel - dann aber kriegt Nagle einen fast perfekten Kreis hin.
"Matthew kann einfach denken, dass er den Cursor bewegt - und schon bewegt er sich auch", erklärt Donoghue, 58. "Das ist keine Magie, sondern Wissenschaft."
Insgesamt vier Menschen, wie Matthew vom Hals abwärts gelähmt, hat der Forscher jeweils einen kleinen Chip mit 100 Elektroden in die Hirnrinde implantiert. Als er die Patienten anschließend bat, sich vorzustellen, sie würden eine der gelähmten Gliedmaßen bewegen, da feuerten genau die dafür zuständigen Nervenzellen.
Der Film dokumentiert, wie sich diese bioelektrische Aktivität in Befehle übersetzen lässt, die ein Roboter verstehen kann: Donoghue fordert Matthew darin auf, sich vorzustellen, wie er mit dem Zeigefinger seinen Daumen berührt. Der Arm des Patienten hängt schlaff wie immer - aber die Handprothese, mit der er vernetzt ist, führt die gewünschte Bewegung aus. "Matthew konnte sich nicht rühren", sagt der Forscher, "und jetzt verändert er die Welt."
Die spektakulären Bilder können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch dauern wird, bis eine routinemäßige Anwendung möglich erscheint. Von den ersten vier Patienten sind drei inzwischen nicht mehr online. Bei einem wurden die Elektroden entfernt, weil sie allmählich kaputtgingen. Matthew Nagle ist im vorigen Juli an den Spätfolgen seiner Verletzungen gestorben; ein weiterer Teilnehmer ist seiner Grunderkrankung, der Amyotrophen Lateralsklerose, erlegen.
Indes: Die Frau aus der Runde, ein Schlaganfallopfer, lebt nun schon 800 Tage mit den Elektroden im Gehirn. Auf die Frage, wie sie die Technik in ihrem Kopf denn so findet, tippt sie den Satz: "Ich liebe sie."
Ginge es nach Donoghue, bekäme die Cyber-Frau schon bald wieder Gesellschaft. Der Professor hat nämlich von der zuständigen Arzneimittelbehörde FDA die Genehmigung erhalten, noch sechs weiteren Patienten die Gedankensteuerung beizubringen. Noch in diesem Jahr hofft er, geeignete Kandidaten zu finden.
Diese werden vielleicht schon mit einer neuartigen Elektrode ausgestattet, die gerade mit Hochdruck entwickelt wird: Sie soll ohne Kabel auskommen und die Daten per Infrarot direkt an den Empfänger schicken. Der Vorteil: Nach dem Einpflanzen könnte das Loch im Kopf zugenäht werden; die Gefahr einer Infektion wäre gebannt.
Noch eleganter wäre es natürlich, die Gedanken abzugreifen, ohne die Schädeldecke überhaupt aufbohren und das Gehirn verletzen zu müssen. Seit längerem versuchen andere Wissenschaftler deshalb, Hirnströme von außen zu erkennen und in Befehle zu übersetzen.
Zunächst kam man auf diesem Feld nicht recht voran - was sich durch das Aufkommen der lernfähigen Entschlüsselungsprogramme gegenwärtig dramatisch ändert. Bis vor kurzem noch musste ein Mensch 100 Stunden üben, ehe er mit seinen Gedanken einen Cursor dirigieren konnte, erklärt der Informatiker Klaus-Robert Müller von der Technischen Universität Berlin: "Jetzt können wir einen Menschen von der Straße holen, und er lernt noch am selben Tag, eine Gehirn-Computer-Schnittstelle zu steuern."
Gemeinsam mit Kollegen von der Charité und vom Fraunhofer Institut für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik in Berlin hat Müller bisher 40 gesunden Probanden blaue Mützen aufgesetzt, auf denen weiße Elektroden angeordnet sind. Mit diesen "Elektroenzephalogramm-Hauben" können Hirnströme sanft von der Kopfhaut abgegriffen und danach im Computer in klare Befehle übersetzt werden. Auf diese Weise schaffen es die meisten Probanden recht schnell, Buchstaben auf einem Computerbildschirm zu steuern und ganze Sätze zu schreiben. Die schnellste Testperson kann bereits acht Buchstaben pro Minute hervorbringen.
Ob diese mentale Schreibmaschine das Leben kranker Menschen tatsächlich verbessert, wollen die Forscher jetzt in einer weiteren Studie herausfinden: Sechs Frauen und Männer mit hoher Querschnittslähmung üben derzeit, mit nichts als ihren Gedanken Briefe zu schreiben.
Der Neurowissenschaftler Rainer Goebel von der Universität Maastricht wiederum versucht, Gedanken mittels Kernspin zu erkennen und in Befehle zu übersetzen. Er hat gesunden Probanden beigebracht, Schläger auf einem Bildschirm zu bewegen: Je stärker das Kernspin-Signal, desto weiter wanderte der Schläger nach oben. Anschließend lieferten sich Testpersonen ein munteres Pingpong-Spiel - und dies, obwohl die Kontrahenten in zwei getrennten Räumen regungslos in Kernspin-Röhren lagen.
Schneller noch als die Entwicklung solcher Schnittstellen zwischen Gehirn und Maschine wird den Experten zufolge aber die Herstellung neuartiger Computer verlaufen. Als Vorbild bei ihrer Programmierung sollen die Befehlsmuster der Neuronen dienen. So könnten Computer entstehen, die genau das leisten, was bisher selbst die leistungsstärksten Rechner nicht fertigbringen: komplexe Entscheidungen zu treffen und blitzschnell Bekanntes wiederzuerkennen. Hirnforscher Tsien nennt das Beispiel eines Klassentreffens: "Selbst nach 20 Jahren erkennen wir unsere Mitschüler gleich wieder - und zwar sogar dann, wenn sie sich einen Bart haben wachsen lassen."
Den Forschern zufolge werden sich auf diesen Neurocomputern der Zukunft die Gedächtnisinhalte ganzer Gehirne speichern lassen. Und der besondere Clou: Unliebsame Erinnerungen, traumatische Erlebnisse oder auch Blamagen, könnte man auf der Speicherplatte aufspüren - und die entsprechenden Muster im Gehirn einfach löschen.
Neu ist diese Idee nicht - zumal es nicht an chemischen Substanzen mangelt, die Erinnerungen ausradieren können. Jeder, der nach einer wüsten Party schon einmal mit einem Filmriss aufgewacht ist, kennt den Effekt. Andere Substanzen sind noch weitaus wirksamer als Alkohol: Während der Rausch nur auf das Kurzzeitgedächtnis schlägt, haben Hirnforscher inzwischen auch Stoffe zur Hand, die Inhalte sogar aus dem Langzeitgedächtnis entfernen.
Biologen aus New York und Rehovot, Israel, haben das im vorigen Sommer erstmals in Tierexperimenten demonstriert: Dazu setzten sie Ratten zunächst eine Zuckerlösung vor, welche die Tiere begierig soffen. 40 Minuten später aber gaben sie den Tieren eine Injektion, die Brechreiz hervorrief. Für gewöhnlich merken sich die Tiere so etwas; sie sind konditioniert und rühren viele Wochen lang keine Zuckerlösung mehr an.
Das aber änderte sich, als die Forscher 25 Tage später einigen der konditionierten
Ratten eine Substanz in die Hirnrinde spritzten, die ein wichtiges Protein des Nervengewebes blockiert. Die Wirkung gab sich nach zwei Tagen zu erkennen: Die Tiere schlürften wieder die Zuckerlösung, als wäre nichts gewesen - die schlechte Erfahrung war vergessen.
Für den Menschen allerdings taugt diese Substanz nicht wirklich. Denn im Gehirn der Nager löscht sie nicht nur die Erinnerung an vergangene Übelkeit; sie wirkt wie eine Keule und radiert wahllos Gedächtnisinhalte aus.
Präzisere Methoden zeichnen sich jedoch bereits ab: Neuroforscher schickten Ratten über eine Platte, die unter leichter elektrischer Spannung stand. Zur gleichen Zeit fingen sie das Feuerwerk elektrischer Signale auf, das während der Stromschläge durch das Gehirn zuckte. Je schmerzhafter und damit traumatischer die Erfahrung, desto tiefer wird sie ins Nervengewebe eingraviert - und ebendies ist für Mark Bear vom Massachusetts Institute of Technology der Grund, warum er glaubt, punktgenau eingreifen zu können: mit einem pharmakologischen Wirkstoff, der im Nervengewebe nur die besonders starken Verbindungen löst.
"So würde man die schlechten Erinnerungen los, ohne die guten zu berühren - wäre das nicht schön?", fragt Bear.
Eine weitere Anwendung des Gedankenlesens besteht darin zu erkennen, wann und wie ein Mensch täuscht und trickst. Alle bisherigen Lügendetektoren haben in dieser Hinsicht versagt. Sie messen keine Gedanken, sondern nur physiologische Veränderungen von Atmung, Blutdruck, Puls oder Schweißbildung. Die Fehlerrate dieser Geräte ist dermaßen hoch, dass ihr kriminaltechnischer Einsatz in Deutschland bereits vor mehr als 50 Jahren von Rechtsgelehrten für unzulässig erklärt wurde.
Im Vergleich dazu erscheinen die jüngsten Versuche, Lügenbolde mit Hilfe des Kernspin-Tomografen zu erkennen, ungleich aussichtsreicher. Schließlich schauen diese Geräte direkt in das Organ, in dem die Lügen geboren werden.
Als Pionier der Forschung gilt der Nervenarzt Daniel Langleben von der University of Pennsylvania School of Medicine in Philadelphia. In einer Studie stiftete er Studenten zum Flunkern an. Dann wieder sollten sie die Wahrheit sagen. Mit dem Kernspin verglichen Langleben und seine Mitstreiter dann, was in den lügenden und den ehrlichen Köpfen vorging.
Das Ergebnis: Sämtliche Hirnareale, die bei wahren Aussagen aktiviert waren, wurden beim Schwindeln ebenfalls angeschaltet. Allerdings regten sich im lügenden Gehirn noch zusätzliche Areale. Langleben leitet daraus eine tröstliche Botschaft ab: "Die Wahrheit scheint sozusagen den Grundzustand des menschlichen Gehirns darzustellen."
Die Lügensignale hingegen deutet der Nervenarzt als Zeichen eines Kampfes, der
im Kopf seiner Probanden stattfindet: Das Gehirn kann sich nur für die Lüge entscheiden, wenn es die Wahrheit aktiv unterdrückt. Lügen kostet Denkkraft - und hinterlässt eine verräterische Spur.
Doch reicht das für eine zuverlässige Anwendung? Langleben ist davon überzeugt; seine Methode wird von der Firma NoLie MRI bereits Detektiven und Privatkunden angeboten: Die Kernspin-Untersuchung, so die Werbebotschaft, sei "die erste und einzige direkte Methode zur Wahrheitsfindung und Lügendetektion der Menschheitsgeschichte".
Das klingt dick aufgetragen, doch zugleich steht angesichts der raschen Fortschritte zu erwarten, dass die Technik mehr als "wahr" und "falsch" unterscheiden kann. Man denke nur an folgendes Szenario: Ein Mordverdächtiger wird nach der Tatwaffe gefragt, mit der das Opfer erschlagen wurde. Er erklärt wortreich, er wisse von nichts, denkt unterdessen aber immerfort an einen Hammer - und der Ermittler "hört" mit.
Denkbar erscheint auch, in Vorstellungsgesprächen die Gefühle der Kandidaten heimlich zu bespitzeln. Zumindest spricht kein Gesetz der Physik dagegen, das Gehirn eines ahnungslosen Menschen aus der Ferne durchleuchten zu können.
Aber: Einen Trost gibt es für all jene, die ihre geistige Privatsphäre auch künftig wahren wollen. Selbst der modernste Kernspin-Tomograf funktioniert nur, wenn der Untersuchte viele Sekunden lang bewegungslos in der Röhre verharrt.
Wer will, dass seine Gedanken frei bleiben, bewege einfach den Kopf.
JÖRG BLECH* An der York University in Toronto, 2006. * Mit Keanu Reeves, Carrie-Anne Moss, USA 1999. * Im Rahmen des Forschungsprojekts der Gruppe von Svetlana Shinkareva an der University of South Carolina in Columbia. * Mit den Darstellern Mathieu Amalric, Emmanuelle Seigner und Regisseur Julian Schnabel, 2007.
DER SPIEGEL 14/2008Alle Rechte vorbehaltenVervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG
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Montag, 28. April 2008

Fallen Angels...

DER SPIEGEL 14/2008 vom 31.03.2008, Seite 42
Autoren: Markus Deggerich und Holger Stark
BANDEN
Gefallene Engel
Rockerkrieg auf deutschen Straßen: Die Motorradclubs Hell's Angels und Bandidos kämpfen mit allen Mitteln um die Vorherrschaft - auch mit Waffengewalt. Aussagen eines Aussteigers ermöglichen nun tiefe Einblicke in diese Parallelgesellschaft.

Auge um Auge, Zahn um Zahn, so lautet das Gesetz dieses Krieges, bei dem es fast alttestamentarisch um die vermeintliche Ehre, aber - ganz Moderne - auch um wirtschaftliche Interessen und Gebietsansprüche geht. Die Gruppen kontrollieren weite Teile der Türsteherszene, und wer die Türen kontrolliert, der kontrolliert auch die Drogen in den Clubs und Discotheken des Landes. Beim Rockerkrieg geht es um ein Finanzvolumen von jährlich vielen Millionen Euro, zu den Geschäftsfeldern zählen Waffenhandel, Glücksspiel, Schutzgelderpressung, Bars und Bordelle. Wie Konzerne haben die Banden ihre lokalen Ableger: 300 Ortsvereine, sogenannte Chapters, hat die Polizei bundesweit gezählt, mit insgesamt 3000 Mitgliedern.

Beide Banden kommen aus den USA und wurden von Kriegsveteranen gegründet - sie betrachten sich als die Elite unter den weltweiten Motorradclubs. Der militärische Hintergrund erklärt auch die straffe Hierarchie, den Hang zu Symbolen und Orden, bis hin zur Lederjacke als Uniform. Die Bandidos kommen aus Texas, 1966 von Marines, Vietnam-Veteranen, ins Leben gerufen. In den Achtzigern entstanden die ersten Ableger in Frankreich, später in Skandinavien.Die Hell's Angels sind älter, der weltweit größte und berühmteste Club feierte in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag. Die Angels wurden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von ehemaligen Crews einer Bomberstaffel der US-Luftwaffe gegründet. Aber fliegende Engel mit froher Botschaft waren die Angels nie. Bei den Mitgliedern sind laut einer Untersuchung von Europol über die Hälfte vorbestraft.

Es ging um einen Aufnäher für das Heiligste des Rockers, seine Jacke. Den sogenannten Expect-no-mercy-Aufnäher, zu Deutsch "Erwarte keine Gnade", dürfen nur jene an die Kutte heften, die einen Angel mit einer Schusswaffe oder einem Messer lebensgefährlich verletzt haben. So soll Robert K. zum Ziel geworden sein - für einen Rockerorden, für ein Stück Stoff.

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Hauch von Großstadtromantik
Bier, Bike und Busen
Bruderschaft mit archaischen Riten.
Machos, klar, Mafia, nein
Easy-Rider-Romantik der amerikanischen Highways, jenem Mythos von Freiheit und Männlichkeit. Sie führen in eine kriminelle Welt mit Kokain und Knarren vom Kaliber 7,65 Millimeter.
"Gott vergibt - ein Angel nie.""Ehre, Achtung, Kameradschaft und die Liebe zum Bike"
prügelnden Chaoten mit viel PS und wenig IQ

"Konflikte Einzelner sind stets auch Konflikte der Gruppe"
"Wer keinen Job hat, dem besorgen wir einen, rumhängen geht nicht."
Bordelle? Waffen? Drogen? "Wer mit Drogen handelt", sagt er und nippt am Mineralwasser, "fliegt raus.""Kriminelle auf Rädern"



MARKUS DEGGERICH, HOLGER STARK
DER SPIEGEL 14/2008Alle Rechte vorbehaltenVervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG
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Freitag, 18. April 2008

Stille Post vom Fötus

Eine Schwangerschaft verändert werdende Väter viel stärker als gedacht: Sie werden offenbar von Pheromonen aus dem Leib der Partnerin eingenebelt - und verwandeln sich in Softies.
  • Je nach Fallbericht klagen 11 bis 65 Prozent der betroffenen Männer über Schmerzen, Brechreiz, innere Unruhe, Schlaflosigkeit, Gewichtszunahme und andere für Schwangerschaften typische Symptome.
  • Eine biologische Basis der männlichen Schwangerschaft.
  • Wie Weißbüschelaffen zu Vätern werden.
    Dem Leib des trächtigen Weibchens entweichen Signalstoffe, sogenannte Pheromone, die über die Luft, aber auch über Körperflüssigkeit in die Nase des Männchens gelangen - und selbiges in einen Softie verwandeln. "Die Männchen werden chemisch auf ihre Vaterrolle eingestellt", sagt Ziegler.
    Dass die werdenden Väter an Gewicht zulegen - obwohl sie gar nicht mehr Nahrung zu sich nehmen. "Dadurch erhalten die Affen zusätzliche Kraft, die sie nach der Geburt brauchen, um die Jungen zu tragen".
    Interessanterweise setzt die Gewichtszunahme des Männchens zeitlich früher ein als jene der schwangeren Partnerin. Es ist also nicht so, dass das Weibchen größeren Appetit zeigt und das Männchen aus reiner Geselligkeit verstärkt mitfrisst. Vielmehr ist das Dickwerden Folge eines physiologischen Prozesses: Signalstoffe aus dem Körper des Weibchens beeinflussen offenbar den männlichen Hormonhaushalt und verbessern auf diesem Wege die Futterverwertung.
    An Lisztaffenpaaren haben Snowdon und Ziegler dokumentiert, wie bestimmte Hormonspiegel im weiblichen und im männlichen Körper während der sechs Monate dauernden Tragzeit hoch- und wieder heruntergehen. Bei den Weibchen tat sich erwartungsgemäß eine Menge - schließlich steuern Hormone die vielfältigen
    Veränderungen des weiblichen Körpers in der Schwangerschaft.
    Aber erstaunlicherweise veränderten sich auch bei den Männchen die Konzentrationen an Androgenen, Östrogenen oder etwa Kortisol. Einige der Verschiebungen ähnelten jenen im Körper der trächtigen Äffinnen, geschahen aber zeitverzögert. Glukokortikoide beispielsweise sind im Weibchen vermehrt in der Mitte der Schwangerschaft nachzuweisen - kurz nach jener Phase, in der die Nebennieren des heranwachsenden Babys mit der Hormonproduktion beginnen. Ein bis zwei Wochen danach schnellt der Glukokortikoidspiegel auch im Körper des Männchens in die Höhe.
    Diese Abfolge sei möglicherweise ein geniales Meldesystem der Natur, vermutet Ziegler: "Der Fötus erhöht den Spiegel an Glukokortikoiden und bewirkt, über den Körper der Mutter, Veränderungen im Hormonhaushalt des Vaters, um diesen auf die Geburt vorzubereiten."
    Auf zwei unterschiedlichen Wegen können demnach die Botenstoffe zum Männchen gelangen. Flüchtige Substanzen schweben in die Nase, weniger flüchtige Stoffe können durch direkten Körperkontakt in das sogenannte Vomeronasalorgan geraten. Dieses besteht aus paarigen Schläuchen voller Sinneszellen am unteren Rand der Nasenscheidewand und ist darauf spezialisiert, Pheromone zu erspüren.
    Dass diese stille Post das Gehirn des Empfängers merklich verändert, haben die Forscher in Wisconsin mit bildgebenden Verfahren nachweisen können. Sie ließen vier männliche Weißbüschelaffen weibliche Ausdünstungen schnüffeln und sahen unterdessen mit dem Kernspin, wie jene Bezirke des Hypothalamus aufleuchteten, die bei der sexuellen Erregung eine Rolle spielen.
    "Wenn ein alleinstehender Mann von einer begehrenswerten Frau angesprochen wird, dann reagieren seine Hormone viel heftiger als jene eines angehenden Familienvaters, der das Bett mit seiner schwangeren Partnerin teilt."
    Gehört Homo sapiens zu den wenigen "biparentalen" Säugetierarten, die ihre Kinder gemeinsam aufziehen. Nicht nur Affen, sondern auch Männer Hormonschwankungen ausgesetzt sind.
  • Die Psychologin Anne Storey von der Memorial University in Neufundland hat 34 Paare, die an Geburtsvorbereitungskursen teilnahmen, regelmäßig zu Hause aufgesucht, ihnen Blut abgezapft und darin die Konzentration von drei Schlüsselhormonen ermittelt:
    * Das Hormon Prolaktin kurbelt im Körper der Frau die Milchproduktion an und ruft mütterliches Verhalten hervor. Aber auch in den untersuchten Männern war der Stoff ungewöhnlich aktiv: Seine Konzentration im Blut stieg drei Wochen vor dem Geburtstermin um ungefähr 20 Prozent.
    * Kortisol ist eher als Stresshormon bekannt, spielt aber auch eine Rolle für die Hinwendung und die Liebe, die eine Mutter ihrem Baby entgegenbringt. Je höher der Hormonspiegel, desto leichter kann sie beispielsweise ihr Kind am bloßen Geruch erkennen. In Storeys Testmännern war der Kortisolspiegel in den letzten drei Wochen der Schwangerschaft doppelt so hoch wie zu Beginn.
    * Der Testosteronspiegel der männlichen Probanden fiel nach der Geburt um ein Drittel. Auch dieser Befund passt gut ins Bild. Denn Testosteron flutet den männlichen Körper meist dann, wenn die Zeit zum Balzen und Flirten ist. Seine Konzentration sinkt dagegen, wenn es gilt, den Nachwuchs zu betreuen.
  • Die zweite kanadische Studie hat die Hormonhaushalte werdender Väter und kinderloser Probanden miteinander verglichen. Die angehenden Väter hatten zum einen besonders wenig Testosteron im Speichel; zum anderen schien die Konzentration eines bestimmten Östrogens überdurchschnittlich hoch. Diese stieg einen Monat vor der Geburt und hielt sich für die restlichen zwölf Untersuchungswochen auf dem hohen Niveau. Obwohl Östrogene gemeinhin als weibliche Geschlechtshormone gelten, kommen sie in kleinen Mengen auch im männlichen Körper vor und lösen bemutterndes Verhalten aus.
    Die Schwangerschaft des Mannes ist den Forschern zufolge ein Produkt der Evolution, das das Überleben der Kinder sichert - und daneben offenbar auch dem Wohl der Väter selbst dient.
JÖRG BLECH
DS 51/2007

Mittwoch, 9. April 2008

Der Philosoph als ein notwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens....

Friedrich Nietzsche
Jenseits von Gut und Böse


Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten -, ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei; jedes Mal sagten sie: "wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am wenigsten zu Hause seid."

Montag, 31. März 2008

Morden für das Vaterland

Die Vernichtung der europäischen Juden war das Werk von rund 200.000 Deutschen und ihren Helfern.
Die meisten NS-Verbrecher waren weder Sadisten noch Psychopathen, sondern ganz normale Männer. Das Massaker von Babi Jar begann am Montag, dem 29. September 1941, am Morgen von Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag. Zehn Tage zuvor waren die Deutschen in Kiew einmarschiert. In langen Kolonnen marschierten die von den Besatzern getriebenen Juden stadtauswärts. Die Deutschen hatten Gerüchte verbreiten lassen, um eine Panik zu vermeiden: Die Juden würden nach Palästina geschickt, kämen ins Ghetto oder nach Deutschland, um zu arbeiten. Die Schlucht: Etwa 50 Meter breit, vielleicht 30 Meter tief, zog sie sich mehrere Kilometer weit hin, an ihrem Grund rieselte ein kleiner Bach. Babi Jar, die Großmutter- oder Altweiberschlucht. Die bis dahin so stillen Juden schrien plötzlich vor Entsetzen. Die ukrainischen SS-Helfer trieben sie in Häufchen hinunter und zwangen sie, sich über oder neben die schon daliegenden Leichen zu strecken. Binnen 36 Stunden töteten die Deutschen 33 771 Juden. Die Opfer seien oft genug zu Wort gekommen, begründet Littell sein Vorhaben, ihn habe die Sicht der Henker interessiert, er wolle die Täter sprechen lassen. Littell wolle erkunden, "wie sich Täterschaft von innen anfühlt", urteilte die "Zeit" Wie es sich denn anfühle, wenn man Massenhinrichtungen so detailliert schildere, wenn man am Schreibtisch im Blut der Opfer wate, wollte der deutsch-französische Intellektuelle und Politiker Daniel Cohn-Bendit bei Littells einzigem öffentlichen Auftritt vorletzte Woche in Berlin wissen. Der Autor antwortete ungerührt, dass die Leiche im Moment des Schreibens eine "grammatikalische Form" sei - so wie für den Täter das Opfer im Moment der Tat zu einer bloßen Sache werde. Die Frage, warum Menschen töten, warum selbst Massenmörder zugleich ganz menschlich und gewöhnlich bleiben können, wird von Littell mit einer Wucht aufgeworfen, für die es in der Literatur kaum Beispiele gibt. Die Abwesenheit der Emotionen ist für ihn der Schlüssel, auf die Psyche der Mörder komme es gar nicht an. So ist die Figur Aue ein reines Konstrukt, das es in Wirklichkeit nie auch nur annähernd gegeben hat. Aue war es gleichgültig, ob man die Juden tötete, weil man sie hasste oder weil man Karriere machen wollte oder weil es einem, in gewissen Grenzen, sogar Spaß machte." Aue ist kein Sadist, noch nicht einmal ein Antisemit, er hasst die Juden gar nicht. Damit widerspricht Littell diametral der These von Daniel J. Goldhagen, wonach die Deutschen eingefleischte Judenhasser gewesen seien. Littell ordnet den Holocaust in einen universellen Zusammenhang ein, der alle Menschen angeht. Auf die Krankhaften kommt es nicht an, um das Perverse auszuführen. Warum aber ist das so? Was treibt die Täter an? Welche inneren Schalter werden umgelegt, wenn ein freundlicher Familienmensch, der abends gern Klavier spielt, morgens Juden ins Gas schickt? Seit 1945 haben Wissenschaftler und Politiker sich mit diesen Fragen gequält. Und im Lauf der Jahrzehnte haben sich die Perspektiven mehrfach verschoben. Manche Antworten dienten mehr der Entlastung der deutschen Gesellschaft als der Aufklärung. Einige wenige Hauptkriegsverbrecher um Adolf Hitler, die den Holocaust befohlen hatten, ausgeführt von Exzesstätern aus Gestapo und SS - so lautete in den fünfziger Jahren der Befund. Er enthielt die beruhigende Nachricht, dass die Mörder nicht aus der Mitte der Gesellschaft zu stammen schienen. Nach dem Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 verschwanden die Täter zeitweise sogar ganz vom Schirm der öffentlichen Wahrnehmung. Eichmann hatte den Transport von Juden aus West- und Mitteleuropa in die Vernichtungslager organisiert und präsentierte sich vor Gericht als willenloser Bürokrat, der nur Befehle befolgt hatte. Der Holocaust erschien nun als industriell durchgeführter Massenmord, angetrieben von abstrakten, gesichtslosen Strukturen. Dazu passte, dass gerade einmal 6500 Täter in Deutschland verurteilt wurden (siehe Kasten Seite 52). Doch Anfang der neunziger Jahre trat eine neue Historikergeneration an, die nach Kriegsende geboren war. Mit frischem Blick und Zugang zu den Archiven in Osteuropa, die bis dahin hinter dem Eisernen Vorhang unzugänglich geblieben waren, machten sie sich auf die Suche nach den Tätern. Dass 1996 Goldhagen mit seinen holzschnittartigen Thesen weltweit Aufmerksamkeit erregte, beflügelte die Wissenschaftler. Unzählige Bücher, Aufsätze, Sammelbände sind inzwischen erschienen. Noch ist ein Ende nicht absehbar, aber bereits jetzt stehen so ziemlich alle alten Gewissheiten in Frage: * Die Täter ein Haufen von Sadisten? Experten schätzen den Anteil der pathologischen Fälle auf allenfalls zehn Prozent. Das ist nicht überdurchschnittlich viel. * Der Holocaust ein industriell durchgeführter Massenmord? Ja, aber ungefähr die Hälfte der annähernd sechs Millionen ermordeten Juden fand abseits der Vernichtungslager von Auschwitz, Treblinka, Sobibór, Majdanek, Chelmno und Belzec den Tod - erschlagen, erschossen, verhungert oder Opfer von Krankheiten, die aus den Lebensumständen in den Ghettos resultierten. Allein die Zahl der im Freien, auf den osteuropäischen Killing Fields erschossenen Menschen betrug über eine Million. * Handelten die Täter aus Befehlsnotstand? Bis heute ist kein Fall bekannt, bei dem ein Befehlsverweigerer Schaden an Leib oder gar Leben genommen hat. Erwiesen ist hingegen, dass deutsche Bürokraten Hitler "entgegenarbeiten" wollten und überall in Osteuropa auf die Ermordung der Juden drängten. * Mord aus Antisemitismus? Ohne den Judenhass hätte es den Holocaust nicht gegeben. Doch zahlreiche Täter nutzten die Staatsdoktrin des "Dritten Reiches" als Vorwand, um sich im Wilden Osten zu bereichern. Von den über 100 Polizei-Bataillonen ist erst bei einem Teil die Geschichte aufgearbeitet, die meisten Wehrmacht-Divisionen sind unerforscht. Eines lässt sich allerdings jetzt schon absehen: Jedes Forschungsprojekt fördert neue Täter ans Licht. Feingeistige Planer, brutale Kommandeure, ängstliche Mitläufer, gedankenlose Gelegenheitsverbrecher. Das Böse war nicht einfach nur böse, es war auch nicht immerzu banal, es Auf mindestens 200 000 Deutsche und Österreicher schätzt Dieter Pohl vom Institut für Zeitgeschichte die Zahl derjenigen, die "Mordaktionen vorbereiteten, durchführten und unterstützten": KZ-Personal, SS-Leute, Polizisten, Wehrmachtssoldaten, Bürokraten, die den Juden im Osten die Existenzgrundlage entzogen. Männer wie der einfach gestrickte Volksdeutsche Alfons Götzfrid zählen dazu, der Anfang November 1943 abkommandiert wurde und an einem Tag im Raum Majdanek 500 Juden erschoss. Oder der aus "Schindlers Liste" bekannte KZ-Kommandant von Plaszów bei Krakau, Amon Göth, der von der Veranda seiner Villa wahllos auf Häftlinge zielte. Oder Major Wilhelm Trapp, Kommandeur des Reserve-Polizeibataillons 101, der in Tränen ausbrach, nachdem er seinen Männern den Befehl erteilt hatte, jüdische Frauen, Kinder und alte Leute in Józefóws bei Warschau zu ermorden. Miteinander gemein haben diese Männer so wenig wie mit den anderen Tätern, und das zählt zu den beunruhigenden Befunden der Forscher. Sie sind auf Nazis und auf Nicht-Nazis gestoßen, auf Männer wie auf Frauen, auf Polizisten, die im "Dritten Reich" sozialisiert wurden, ebenso wie auf Beamte, die im Kaiserreich aufwuchsen, auf Proletarier und auf Akademiker. Nicht einmal auf Deutsche (und Österreicher) beschränkt sich der Täterkreis. Nach Pohls Schätzungen ist die Zahl der Ausländer ungefähr ebenso groß. SS und Polizei zogen immer wieder ukrainische, lettische oder andere einheimische Polizisten und Hilfskräfte für das blutige Handwerk heran. Wie jene 120 sowjetischen Kriegsgefangenen, die in Treblinka gemeinsam mit einigen Dutzend SS-Männern ungefähr 850 000 Juden ermordeten. Eine Relativierung deutscher Schuld lässt sich mit solchen Erkenntnissen freilich schlecht begründen. Die Arbeitsteiligkeit unterstreicht nur, dass Deutschland den Judenmord als Staatsziel betrieb - und dabei überall Unterstützung fand. "Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent", resümiert Gerhard Paul, einer der führenden Täterforscher. Und so gibt es auch nicht den einen Grund dafür, dass zwischen Riga und Odessa ganz normale Männer ihre Opfer auf Lastwagen knüppelten und sie zu Hinrichtungsstätten karrten, dort Frauen und Kindern ins Genick schossen oder Zyklon B in die Gaskammern füllten. "Es sind die Umstände, die jemanden dazu bringen", sagt Kurt Schrimm, Staatsanwalt und Leiter der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg, die seit 1958 die Strafverfolgung von NS-Tätern koordiniert. Selbst fanatische Antisemiten brauchten danach ein Umfeld, wie es das "Dritte Reich" schuf, bevor sie ihren Judenhass auslebten. Das würde erklären, warum Abertausende das Morden mit dem Untergang des "Dritten Reiches" von einem Tag auf den anderen beendeten - und nie wieder rückfällig wurden. Ein Großteil führte fortan ein Leben, als wäre nichts geschehen. Unbehelligt von Staatsanwälten packten sie an beim Wiederaufbau des Landes und gründeten Familien. Vielfach ist daraus der Schluss gezogen worden, dass ehemalige SS-Leute, Polizisten, Soldaten ihre Schuld verdrängten. Ganz anders deutet hingegen der Sozialpsychologe Harald Welzer diesen Sachverhalt. Er geht davon aus, dass die Täter eine Schuld gar nicht erst empfanden. Daher zeigten vor Gericht so wenige von ihnen Reue. Welzer verweist darauf, dass Menschen in einer konstruierten Welt leben. Sie deuten das Geschehen gemäß eines "normativen Referenzrahmens", der ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Der Wissenschaftler glaubt, dass es den Nationalsozialisten gelungen ist, diesen Referenzrahmen bereits vor dem Holocaust deutlich zu verschieben. Adolf Hitler hätte demnach schon in den dreißiger Jahren eine Vielzahl der Deutschen davon überzeugt, dass es ein "Judenproblem" gebe, welches in irgendeiner Weise gelöst werden müsse. Dafür sprechen in der Tat zahlreiche Indizien. Noch am 1. April 1933, als die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, kam es vor Läden zu Diskussionen und sogar Schlägereien, weil viele Nichtjuden sich empörten. Nur fünfeinhalb Jahre später bot sich dem Betrachter ein ganz anderes Bild. In der sogenannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 zündeten Schlägertrupps in vielen deutschen Städten Synagogen an und ermordeten insgesamt etwa 100 Juden. Es war das größte Pogrom der deutschen Geschichte seit dem Mittelalter, doch der Protest in der deutschen Öffentlichkeit richtete sich nur noch gegen die "Form des Kampfes gegen das Judentum", wie die Kölner Gestapo notierte. In der Zeit dazwischen hatte die Nazi-Propaganda unablässig Juden als "Untermenschen" und Gefahr für die "Volksgemeinschaft" stigmatisiert. Sie mussten Sportvereine verlassen und riskierten Zuchthausstrafen, wenn sie mit Nichtjuden schliefen; sie hatten den Staatsdienst zu verlassen, und es war ihnen verboten, die deutsche Flagge zu hissen. Die Wirklichkeit schien die Ideologie zu bestätigen: Weil Juden ausgegrenzt waren, wurden sie als nicht dazugehörig wahrgenommen. Das ist noch nicht gleichzusetzen mit der Bereitschaft zum Mord, aber die Ausgrenzung senkte deutlich die Hemmschwelle. Den Endpunkt der Entwicklung hat der Autor Primo Levi in einer Szene beschrieben, die er als Häftling in Auschwitz er- lebte. Er wurde zu einem SS-Arzt kommandiert. Der Mediziner, so Levi, habe ihn mit einem Blick angesehen, "der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen". Das Ausmaß der Gesinnungsrevolution zeigt eine Umfrage der Amerikaner im Herbst 1945 in ihrer Besatzungszone. 20 Prozent der Befragten stimmten "mit Hitler in der Behandlung der Juden überein"; weitere 19 Prozent fanden seine Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung grundsätzlich richtig, wenn auch übertrieben. Nach Einschätzung des Historikers Friedländer war Hitler ein "Erlösungsantisemit". Er sah in den Juden die Verkörperung des Bösen, das vernichtet werden müsse, um die Welt zu retten. Die Ermordung der Juden sei daher "die beste Lösung", wie er einem Journalisten 1923 erzählte, aber es sei nicht möglich, denn "die Welt würde über uns herfallen, anstatt uns zu danken, was sie eigentlich tun sollte". Hitler wollte daher die deutschen Juden zur Auswanderung zwingen. Allerdings bildete sich schon in den dreißiger Jahren jener Kern an überzeugten "Weltanschauungskriegern" in SS und Polizei heraus, die später einen beträchtlichen Teil der Morde durchführte. Etwa unter den Zehntausenden SS-Männern, die in den Konzentrationslagern Dienst taten. Nicht alle von ihnen waren von vornherein bereit, Juden zu töten. Im KZ Dachau ließ Kommandant Theodor Eicke seine Männer systematisch schleifen und demütigen. Richard Baer, später Kommandant in Auschwitz, wurde in Dachau angelernt, auch Martin Weiß oder Josef Kramer, die das Vernichtungslager in Majdanek beziehungsweise das KZ Bergen-Belsen leiteten. Wurden in Dachau neue Schergen "ausgebildet", hatten die Häftlinge besonders zu leiden. Ein erfahrener SS-Mann nahm den Novizen mit zur sogenannten Blockkontrolle. Die Gefangenen mussten antreten, und dann ging es los: "Auf! Hinlegen! Auf! Hinlegen!" Nach einer Weile zeigte der Routinier auf einen Häftling und gab dem Jüngeren Order: "Tritt dem Kerl in den Bauch!" In neun von zehn Fällen, berichtet ein Überlebender, habe der Jüngere zurückgeschreckt und bekam dann so lange Druck, bis er tat, was man von ihm verlangte: "Was, du hast Schiss vor dem Saujuden? Du willst ein Soldat des Führers sein? Ein Feigling bist du!" Den NS-Organisationen schloss sich meist an, wer in überdurchschnittlichem Maße zur Gewalt neigte - und das waren nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Hekatomben an Toten und der Weimarer Republik mit ihren Tausenden Opfern politischer Gewalt vermutlich mehr Menschen als zu zivilisierten Zeiten. Wie sonst lässt sich erklären, dass 1932 mehr als ein Drittel der Deutschen für die NSDAP stimmten, also für eine Partei, deren Anhänger immer wieder Andersdenkende brutal umbrachten und dafür auch noch öffentlich von der Parteiführung unterstützt wurden? SS-Chef Heinrich Himmler konnte jedenfalls seine Männer aus einem rechtsradikalen Milieu rekrutieren, in dem eine rassistische Hasskultur dominierte. Rudolf Höß etwa, später Kommandant von Auschwitz, brachte bereits 1924 gemeinsam mit anderen Nazis einen Volksschullehrer um, den sie für einen Kommunisten hielten: Sie schlugen ihn mit Knüppeln bewusstlos, dann schnitt ihm einer mit dem Taschenmesser die Kehle durch, und ein anderer jagte ihm zwei Kugeln in den Kopf. Dabei hatte jede Gewalttat integrierende Wirkung. "Blut kittet aneinander", beschrieb Hitlers Propagandachef Joseph Goebbels einmal diesen Mechanismus, der später auch die Mordeinheiten zusammenschweißte. Dass es sich beim KZ-Personal meist um einfache Menschen handelte, die - nach allem, was man weiß - ihr Handeln nicht reflektierten, gab nach 1945 der Ansicht Auftrieb, das deutsche Bürgertum habe mit dem Holocaust nichts zu tun. Umso größer war 2002 die Überraschung in der Öffentlichkeit, als der Historiker Michael Wildt biografisch entschlüsselte, wer im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Befehle gegeben hatte. In dieser Behörde, die den Judenmord maßgeblich organisierte, verschmolz RSHA-Chef Reinhard Heydrich politische Polizei und den Sicherheitsdienst der SS zu einer Institution. Wie Wildt herausfand, hatten mehr als drei Viertel des Führungskorps Abitur, zwei Drittel studiert (überwiegend Jura), nahezu ein Drittel hatte zudem promoviert. Das Böse, auf einmal war es dort ausgebrütet worden, wo das Gute, Wahre und Schöne gelehrt wird. Die deutschen Universitäten waren schon 1933 Hort eines militanten Antisemitismus gewesen, und viele der späteren Täter auf der Führungsebene hatten im Studium einen Gegenentwurf zur liberalen Demokratie kennen- und schätzen gelernt. Einer von ihnen war der Einserjurist Martin Sandberger, Jahrgang 1911, Parteimitglied seit 1931 und schon mit 27 Jahren SS-Sturmbannführer beim SD - fleißig, hochintelligent, ein Schnelldenker, genau der Typus, den Wildt meint. Im Oktober 1939 ernannte ihn Himmler zum Chef der Einwanderer-Zentralstelle Nord-Ost, einer NS-Behörde, die für die "rassische Bewertung" deutscher Umsiedler zuständig war; ab März 1941 führte ihn der RSHA-Geschäftsverteilungsplan als verantwortlich für die "Lehrplangestaltung der Schulen" und ab Januar 1944 als Leiter der Abteilung VI A, "Allgemeine Aufgaben" des Auslandsnachrichtendienstes. Zwischendurch profilierte er sich als einer der Hauptakteure der Vernichtung. Das Einsatzkommando 1a, das er führte, machte Estland "judenfrei", und der promovierte Rechtswissenschaftler gab später zu, an der Tötung von "etwa 350" Kommunisten direkt beteiligt gewesen zu sein. Sandberger wurde 1948 von den Amerikanern zum Tode verurteilt, ohne dass es zur Vollstreckung kam. Zehn Jahre später schon war er "endgültig und bedingungslos" wieder frei - nachdem sich Bundespräsident Theodor Heuss und der SPD-Grande Carlo Schmid, sein früherer Universitätslehrer in Tübingen, für ihn stark gemacht hatten. Sandberger, entschuldigte ihn Schmid, sei "dem geistigen Nihilismus der Zeit verfallen" gewesen. Wissenschaftler Wildt spricht von einer "Generation des Unbedingten", geboren meist nach 1900 und zu jung, um am Ersten Weltkrieg teilgenommen zu haben. Gerade dieser Krieg war jedoch enorm präsent - in den Erzählungen der Älteren, in den Medien, in der Politik mit dem ewigen Lamento über die Niederlage und ihre Folgen. Aus dem Bedauern, nicht dabei gewesen zu sein, erwuchs eine radikale Entschlossenheit, mit dem Herkömmlichen zu brechen. Und da es sich um überzeugte Antisemiten handelte, war die Bereitschaft vermutlich schon 1939 in nuce vorhanden, die Grundsätze der eigenen Weltanschauung bis zur letzten Konsequenz umzusetzen. Es erhob sich jedenfalls kein Widerspruch in Polizei oder Sicherheitsdienst, als Heydrich kurz nach dem deutschen Angriff auf Polen 1939 die Ermordung "führender Bevölkerungsschichten" anordnete: "Der Adel, die Popen, die Juden" seien dran. Die blutige Aufgabe übernahmen Sondertruppen, die sogenannten Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes. An die Spitze berief Himmler Nationalsozialisten der ersten Stunde. Die wenigsten von ihnen hatten bis dahin gemordet. Doch den Krieg begriffen diese Männer als "Wahrheitsprobe auf die jahrelang geübte Kampfrhetorik", wie ein Autorenteam in einer gerade erschienenen Studie schreibt*. Mit dem Krieg wurde das Töten zum Alltag, und für Mordaktionen boten sich immer neue Scheinbegründungen. Ende 1939 hatten die Einsatzgruppen ungefähr 7000 Juden (und noch mehr polnische Katholiken) umgebracht. Schwierigkeiten mit den Mannschaften, welche die Massenerschießungen durchführen mussten, sind nicht überliefert. Allerdings meldeten sich knapp 50 Mann des bis zu 150 Mann umfassenden Einsatzkommandos 3/I krank. Sie klagten über Magenbeschwerden und Nervenleiden. "Ostkoller" nannte die SS-Führung später die psychischen Folgen des Massenmor- des. Durch Schnapsausschank und Filmvorführungen versuchten die Offiziere, ihre Untergebenen bei Laune zu halten. Nach der Besetzung Polens 1939 und Teilen Frankreichs im Jahr darauf lebten mehr als drei Millionen Juden in Hitlers Imperium. Auswanderung war jetzt keine Lösung mehr für das "Judenproblem". Daher plante Hitler eine "territoriale Endlösung". Zunächst wollte er die mitteleuropäischen Juden in ein "Reservat" in der Umgebung des ostpolnischen Lublin ansiedeln. Dann erwogen Hitler und Himmler, alle Juden aus dem deutschen Machtkreis nach Madagaskar umzusiedeln. Die beiden Chef-Architekten des Holocaust, Himmler und Heydrich, beabsichtigten im Sommer 1940 noch nicht, alle europäischen Juden zu ermorden. Das sei "ungermanisch", meinte Himmler. Der ihm untergebene Heydrich schloss sich an: "Eine biologische Vernichtung wäre des deutschen Volkes als einer Kulturnation unwürdig." Aber die Pläne zerschlugen sich, und im Februar 1941 sagte Hitler bei einer Besprechung über die weitere Behandlung der Juden, er denke "über manches jetzt anders, nicht gerade freundlicher". Da hatten die Planungen für den "Fall Barbarossa" - den Angriff auf die Sowjetunion - bereits begonnen. Der "Führer" war nicht psychisch krank, und auch die anderen Top-Nazis scheinen im medizinischen Sinne normal gewesen zu sein. Als die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg führende Nationalsozialisten in Nürnberg vor Gericht stellten, wurden die Angeklagten zahlreichen psychologischen Tests unterworfen, die zumindest nach damaligen Standards keine krankhaften Auffälligkeiten zeigten. Umso schlimmer. Demnach wussten sie, was sie taten. Die Elite des "Dritten Reiches" war fest davon überzeugt, dass Juden eine Art Basis für die Herrschaft der Bolschewiki in der Sowjetunion stellten. Als der "Führer" den Angriff auf das Kreml-Imperium vorbereitete, gab er Order: "Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz ... muss beseitigt werden." Es ist umstritten, ob Hitler zunächst nur jüdische Männer oder auch schon Frauen und Kinder umbringen wollte; spätestens ab August 1941 mordeten die Einsatzgruppen mit der (erzwungenen und auch freiwilligen) Unterstützung einheimischer Polizisten alle sowjetischen Juden hinter der vorrückenden Ostfront. Sie wurden erschossen oder in Synagogen getrieben, die dann angezündet wurden. Bis März 1942 hatten die Einsatzgruppen, deren Angehörige überwiegend aus Gestapo, Sicherheitsdienst der SS und Waffen-SS kamen, sowie Polizeibataillone 600 000 jüdische Menschen umgebracht. Hitler hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem gigantischen Bevölkerungstransfer begonnen. Er ließ mehrere hunderttausend Volksdeutsche aus Osteuropa "heim ins Reich" holen. Sie übernahmen Wohnungen christlicher und jüdischer Polen im Warthegau; die Juden wurden in Ghettos abgeschoben. Nach dem bald erwarteten Endsieg wollte Hitler sie weiter Richtung Osten deportieren. Der Endsieg kam bekanntlich nicht zustande. Weil die Ghettos immer voller wurden, drängten die örtlichen Machthaber darauf, das Problem durch Mord zu lösen. Der Osten Europas entwickelte sich zum rechtsfreien Raum, und welche Dynamik eine solche Situation entfalten kann, war vor einigen Jahren im Film "Das Experiment" zu sehen. Er beruht auf einem realen Versuch im kalifornischen Stanford. Gefängnisinsassen wurden dort willkürlich in Wärter und Gefangene eingeteilt, und obwohl Schlagen oder Treten verboten war, eskalierte die Lage rasch. Auch "Wärter", die nicht dem sadistischen Typ entsprachen, quälten ihre "Untergebenen". Das war auch im Osten so. In der Sicherheitspolizei im Distrikt Krakau dienten überwiegend Seiteneinsteiger bei der Gestapo, deren Weltbild in den SS-Kasernen entstanden war, wie Experte Klaus-Michael Mallmann schreibt. Etwa Heinrich Hamann, ein 1908 geborener Kaufmann, seit 1931 Mitglied der SS und der NSDAP. Er hatte in den frühen dreißiger Jahren seine bürgerliche Existenz aufgegeben, um Polizist zu werden, und arbeitete sich zum Kriminalkommissar bei der Gestapo hoch. 1939 übernahm er das Kommando des Grenzpolizeikommissariats Neu-Sandez. Vor der Dienststelle ließ Hamann den Bürgersteig mit Grabsteinen des jüdischen Friedhofs pflastern. Am 28. April 1942 versammelte er seine Getreuen, um die Erschießung von 300 angeblich jüdischen Kommunisten zu feiern. Als Hamann angetrunken war, schlug er vor, noch "Remmidemmi" zu machen. Mit einigen Polizisten, aber auch Leuten der Zivilverwaltung zog er ins unbeleuchtete Ghetto. Am nächsten Morgen waren über 20 Juden tot. Der Fall wurde aktenkundig, weil Hamann bei dem mörderischen Ausflug versehentlich seinen Stellvertreter erschoss. Antisemitismus bildete in solchen und anderen Fällen nur den Vorwand für Verbrechen. "Mit der Pistole einkaufen" nannten es etwa Polizisten, wenn sie Juden ausraubten oder erpressten. Sie veranstalteten Hausdurchsuchungen und befahlen den jüdischen Frauen, sich auszuziehen, weil man sie filzen müsse. Nach der Vergewaltigung wurden die Opfer meist erschossen. In diesem Klima folgte der Holocaust oft einer brutalen ökonomischen Logik. Fehlte es an Nahrung oder Wohnungen, wurde die Vernichtung forciert. Alle Instanzen machten mit: Arbeitsverwaltung und Landwirtschaftsbehörden, Wirtschaftsbetriebe und Wehrmacht, natürlich SS und Polizei, die am Ende exekutierten, was gemeinsam vorangetrieben worden war. Fehlte es an Personal, griffen die Verwaltungsbeamten auch selbst zur Waffe. SS-Chef Himmler hatte immer schon eine gezielte Personalpolitik betrieben; auf den Schlüsselpositionen im SS- und Polizeiapparat saßen daher radikale Antisemiten, die entsprechende Befehle gaben. Sie waren vom Glauben an den "Führer" beseelt und fühlten sich auf abstruse Weise bedroht. So schrieb der Polizeisekretär Walter Mattner nach einer Massenexekution an seine Frau: "Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Eingedenk dessen, dass ich auch zwei Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genauso, wenn nicht zehnmal ärger machen würden." Die Antisemiten verfügten allerdings nicht über ausreichend Personal für den allumfassenden Judenmord. In Polen wohnte ein beträchtlicher Teil der Opfer in weitverstreuten Dörfern und Städtchen. Um sie umzubringen, benötigte man die Hilfe der Wehrmacht, deren Offiziere oft ihrerseits den Mord an Juden forcierten, weil sie diese verdächtigten, Partisanen zu sein oder Partisanen zu unterstützen. Soldaten halfen beim Erfassen und Zusammentreiben der Opfer, sperrten die Hinrichtungsorte ab. Einige Einheiten mordeten selbst im großen Stil. Die 707. Infanteriedivision hat in Weißrussland mindestens 10 000 Juden umgebracht. Vor allem aber half die ursprünglich unpolitische Ordnungspolizei, und dass dies so reibungslos und flächendeckend funktionierte, gehört bis heute zu den Rätseln, über die Historiker und Psychologen brüten. Denn die Männer der Polizeibataillone bildeten eher einen Querschnitt der Gesellschaft als eine nationalsozialistisch geprägte Auswahl; sie waren eingezogen worden und in der Regel über 30 Jahre alt. Im Gegensatz zu Wehrmachteinheiten waren sie nicht durch den Krieg brutalisiert worden, sondern kamen direkt aus der Heimat und erhielten nun den Befehl zum Mord. Doch auch sie holten wehrlose Männer, Frauen und Kinder aus den Häusern und erschossen sofort Alte und Kranke. Das Schreien der Opfer und ihrer Angehörigen gellte durch die kleinen Ortschaften. Die Juden wurden meist in abseits gelegene Wäldchen gefahren. Die Polizisten führten ihre Opfer zu den Gruben und töteten sie durch Genickschuss. Manchmal schossen die Polizisten in den Kopf, so dass die Schädeldecke wegplatzte und den Tätern die Gehirnmasse der Opfer ins Gesicht und auf die Uniform spritzte. Die Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101, dessen Geschichte der Historiker Christopher Browning rekonstruiert hat, betranken sich, nachdem sie am 13. Juli 1942 in der Nähe Warschaus 1500 Juden erschossen hatten. Es war ihr erstes Massaker, und der befehlshabende Major Trapp suchte die Männer mit dem Hinweis zu beruhigen, dass höhere Stellen die Verantwortung trügen. Am frühen Morgen hatte Trapp, ein 53jähriger Berufspolizist, seinen Untergebenen ihren Auftrag eröffnet und erklärt, wer sich von den Älteren dem nicht gewachsen fühle, möge vortreten. Ein Angehöriger der 3. Kompanie nahm das Angebot an, woraufhin sein unmittelbarer Vorgesetzter ihn beschimpfte, doch Trapp nahm den Mann in Schutz. Einige weitere nutzten daraufhin ebenfalls das Angebot. Die anderen machten sich auf den Weg. Trapp blieb im Ort und verheimlichte seine Verzweiflung nicht. Er weinte nach Zeugenaussagen "wie ein Kind", murmelte jedoch "Befehl ist Befehl". Auch viele seiner Untergebenen haderten mit dem Auftrag, als im Wald das Erschießen begann. Einige erklärten nach einer Weile, sie könnten nicht mehr, oder verwiesen darauf, dass sie selbst Kinder hätten. Mehrere Schützen stellten fest, dass sich unter den Opfern Juden aus Hamburg, Bremen oder Kassel befanden, und gingen zu ihren Zugführern. Manche wurden gleich abgelöst, andere bekamen zunächst zu hören, sie könnten sich auch neben die Juden auf den Boden legen, und wurden schließlich doch von den Morden entbunden. Die allermeisten taten jedoch wie befohlen. Um das Verhalten zu erklären, hat Browning auf das Experiment verwiesen, das der Psychologe Stanley Milgram 1962 an der Yale University durchführte. Probanden wurde der Eindruck vermittelt, sie seien Lehrer und müssten mit einem "Schüler", der im Nachbarraum saß (und eingeweiht war), einen Lerntest durchführen. Gab der "Schüler" falsche Antworten, sollte ihn der Proband mit immer stärkeren Stromschlägen bestrafen. Zögerte dieser, forderte ihn der Versuchsleiter mit Bestimmtheit zum Weitermachen auf. Und obwohl der Proband das (simulierte) Schreien des "Schülers" hören konnte, verabreichten fast zwei Drittel der Versuchspersonen Stromschläge von 450 Volt. Milgram wertete das Experiment als Beleg dafür, dass Menschen Anweisungen von Autoritäten selbst dann folgen, wenn sie damit gegen ihr Gewissen handeln. Milgram wies allerdings auch schon darauf hin, dass viele lieber behaupten, einem Befehl gefolgt zu sein, als auf Gruppendruck reagiert zu haben. Auch bei den Polizeibataillonen scheint Gruppendruck eine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Eine Verweigerung schien gegenüber den Kameraden ein unsozialer Akt zu sein bei einer von fast allen als belastend empfundenen Aufgabe. Man riskierte zudem mitten im Feindesland, von seinem Umfeld geschnitten zu werden. Auch stellte der Fortgang des Geschehens das eigene Urteil ständig in Frage; schließlich machten andere mit. Und oft sammelten sich um die Hinrichtungsstätten johlende Gaffer - deutsche Uniformträger oder auch nichtjüdische Einheimische -, was bestätigend wirkte. Sadisten in der Truppe förderten die Mordbereitschaft noch. Denn deren Verhalten ermöglichte es widerwilligen Tätern, vor sich selbst das eigene Handeln zu rechtfertigen, schließlich empfanden sie keine pathologische Freude an ihrem Tun. Sich selbst redeten sie ein, notwendige Arbeit zu verrichten. Es ging ja gegen die "Untermenschen". Alles eine Frage der Perspektive. Wenn die Welt aus den Fugen ist, wird die Perversion zur Normalität, und Mitgefühl gibt es nur für hartgesottene Täter. Vor hohen SS-Führern erklärte Himmler 1943: "Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht - ,Das jüdische Volk wird ausgerottet' - sagt ein jeder Parteigenosse, ,ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.' Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden ... Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen ... Dies durchgehalten zu haben und dabei anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht." Himmler hatte sich zwei Jahre zuvor im weißrussischen Minsk ein eigenes Bild gemacht. Er wollte einmal Zeuge einer Liquidierung sein. Etwa 100 angebliche Partisanen wurden aus dem Gefängnis geholt, kaum lagen sie mit dem Gesicht nach unten, feuerten die Deutschen von oben. Himmler wurde nervös, offenbar war ihm übel. Vergeblich suchte ein hochrangiger SS-Führer die Schwäche des stärksten Mannes nach Hitler zu nutzen und bat, bei Erschießungsaktionen "wenigstens die Polizisten zu schonen". Die Männer, erklärte er, seien "fertig für ihr ganzes Leben" - entweder würden sie zu Neurotikern oder zu Rohlingen. Mittlerweile waren die Erschießungen an der Ostfront auch in der Heimat bekannt, das Regime musste schon deshalb auf eine besser abgeschottete Tötungsmethode sinnen. Sie sollte darüber hinaus die Helfer Hitlers "psychisch weniger belasten" (Historiker Pohl). Von Sprengstoff war anfangs die Rede. Dann hielten die Techniker des Todes den Einsatz von Gaswagen für praktikabel, wie sie für die Ermordung Kranker und Behinderter im Rahmen der "Euthanasie" eingesetzt wurden. Zwar hätten in den Einsatzgruppen seit Dezember 1941 "mit drei eingesetzten Wagen 97 000 verarbeitet" werden können, "ohne dass Mängel an den Fahrzeugen auftraten", heißt es in einem Bericht streng bürokratisch. Doch auch jene Mordlogistik schien dem erwarteten Aufkommen an Opfern nicht zu genügen. Und so entstanden - oft unter Anleitung der Euthanasie-Experten - die Vernichtungslager: Erst ging Belzec in Betrieb, dann Sobibór, schließlich Treblinka und Majdanek. Und Auschwitz, das zum Synonym werden sollte für die fabrikmäßige Vernichtung der europäischen Juden - eine Form des Genozids, der unvergleichbar war und ist mit anderen Völkermorden auf dieser Welt. Die Funktionäre der Vernichtungslager, SS-Angehörige vor allem aus der um das Jahr 1900 geborenen sogenannten Kriegsjugendgeneration, entstammten durchweg der bürgerlichen Mittelschicht. Sie akzeptierten die Rolle, die nun zu spielen war - "Härte" zu zeigen. Und in diesem Rollenspiel hatten zwei Charakterzüge nichts zu suchen: Mitleid und Menschlichkeit. Sie wurden zu Massenmördern, weil es ganz offenbar ihre Überzeugung war, so dem Vaterland ordentlich zu dienen - und weil es ihnen gelang, diesen scheinbaren Idealismus vor sich her zu tragen "als leuchtende Monstranz", urteilt die Historikerin und KZ-Spezialistin Karin Orth. Jene Männer, sagt Orth, seien "Männer der Tat" gewesen. Das NS-Programm war so gigantisch, dass es erst allmählich in Gang kam, und es lief überall prinzipiell gleich ab. Juden wurden zusammengezogen, zu den Bahnhöfen getrieben und dann in die Züge geprügelt - bis zu 150 Menschen standen eng gedrängt in einem Waggon, es gab kein Wasser, und die völlig überladenen Züge benötigten für wenige hundert Kilometer manchmal zwei Tage. Etliche starben, bevor sie den Ort des Todes erreichten. Experten sind heute überzeugt, dass die Arbeitsteiligkeit des Mordens die Hemmschwelle deutlich senkte. Denn jeder an der Deportation Beteiligte außerhalb der Vernichtungslager konnte sich einreden, er sei kein Mörder. Eichmann, der Cheforganisator aus dem Reichssicherheitshauptamt, war ein glühender Judenhasser. Ab 1938 hatte er in Wien die "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" geleitet. Jetzt organisierte er die Verschleppungen aus Mittel- und Westeuropa, und während etwa in Treblinka die Juden sofort ins Gas getrieben wurden, halfen in Auschwitz an den Bahnhofsrampen sogenannte Funktionshäftlinge bei der Selektion der Ankommenden in Arbeitsfähige und Todgeweihte, Tausende oft in Stundenfrist. Ab Frühjahr 1942 waren die Todesstätten zwei Bauernhäuser neben dem Lagerzaun, "Bunker 1" und "Bunker 2" mit abgedichteten Räumen. Durch kleine Fenster kippten SS-Schergen das Schädlingsbekämpfungsmittel "Zyklon B" aus Dosen ins Innere - und warteten 20 Minuten lang, bis alle Opfer erstickt waren. Dann mussten die jüdischen Häftlinge, die in "Sonderkommandos" zusammengefasst wurden, ihr schreckliches Werk tun. Ein Zeuge: "Wenn man die Türen öffnete, dann lagen sie - die einen über den anderen, die lagen wie Pyramiden. Die Stärksten versuchten so hoch wie möglich zu kommen. Die Schwächsten waren unten." Die Leichen wurden herausgeholt und in Gruben geworfen, die andere ausgehoben hatten. Kalk, Erde, das war die Bestattung. Bis zum Juni 1943 wurden vier große Krematorien mit eigenen Gaskammern fertiggestellt, täglich konnten nun über 4000 Menschen vergast und verbrannt werden - die zuständige Zentral-Bauleitung war so stolz auf ihr Werk, dass sie im Vorraum ihrer Büros eine Bilderserie "säuberlich nebeneinander liegender Verbrennungsöfen" präsentierte, erinnert sich ein früherer Rottenführer. Viele SS-Leute kamen freiwillig nach Auschwitz, allerdings wohl ohne zu wissen, was sie erwartete; andere wurden abkommandiert, auch Hunderte Soldaten der Wehrmacht gehörten zur Mannschaft - meist ältere, kränkliche Männer, "die den Strapazen der Front nicht mehr gewachsen waren", schreibt der frühere Häftling Hermann Langbein. Seelische Not spürten offenbar die wenigsten, jedenfalls findet sich in der einschlägigen Literatur keinerlei Szene solcher Art - was Wunder bei dem Selbstverständnis, stets hart zu sein. Und wer sich dennoch verweigerte, so berichtet Langbein, der wurde rasch und kritiklos durch einen Kameraden ersetzt. Die Kerneinheit allerdings stellten jene SS-Leute, die den Drill anderer Konzentrationslager mitgemacht hatten - und sich als eine Art Avantgarde des deutschen Volkes betrachteten mit dem Anspruch, der auserwählten Rasse anzugehören. Herren über Leben und Tod, die offenbar die Rechtfertigung eigenen Handelns nicht im Hier und Jetzt erblickten, sondern in einem noch zu verwirklichenden Rassenimperium. Erst als alles vorbei war, verstanden sich die Weltanschauungskämpfer plötzlich nur noch als kleine Rädchen im allmächtigen Apparat. Zum Personal in Auschwitz und Majdanek, nicht aber in den anderen Vernichtungslagern, zählten auch Frauen; sie waren Reichsangestellte, keine Mitglieder der SS. Und diese zumeist noch sehr jungen Frauen waren größtenteils freiwillig hier. Als Aufseherinnen nahmen sie an Selektionen teil, sorgten während der Appelle für Ruhe und Ordnung und halfen danach mit, schreibt die Historikerin Gudrun Schwarz, "die selektierten Frauen zu den Gaskammern zu treiben". Die Ehefrauen, die in den zum Lager gehörenden Siedlungen lebten, hatten eine ganz besondere Aufgabe. Sie sollten ein warmes Nest hüten - offenbar bedurfte die KZ-Arbeit der Kompensation innerhalb der eigenen vier Wände. Nervenberuhigende Ablenkung boten darüber hinaus Musikabende, Theatervorstellungen ("Gestörte Hochzeitsnacht") oder ein Kaffeehaus, und wer sich besonders verdient gemacht hatte, dem steckte sein Chef schon mal Schnaps und Zigaretten zu. Das für die KZ zuständige Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS lehnte bemerkenswerterweise eines ab - mehr Geld für die Schergen. Das Gehalt habe nur "sekundäre Bedeutung", teilte Amtschef Oswald Pohl mit. Viel wichtiger sei die "innere Beziehung" jedes Einzelnen zu seiner Arbeit - hier hat der Begriff Mordmotiv eine ganz eigene Bedeutung. Als einer der Akteure des Judenmordes, der Einsatzgruppenchef Otto Ohlendorf, sich vor einem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal verantworten musste, sprach er vom Gastod als "Humanisierung" des Massenmordes, human für die Täter. Er meinte es gar nicht zynisch.
DER SPIEGEL 11/2008Alle Rechte vorbehaltenVervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt.Unter http://corporate.spiegel.de finden Sie Angebote für die Nutzung von SPIEGEL-Content zur Informationsversorgung von Firmen, Organisationen, Bibliotheken und Journalisten. Unter http://www.spiegelgruppe-nachdrucke.de können Sie einzelne Artikel für Nachdruck bzw. digitale Publikation lizensieren.