Mittwoch, 18. Juni 2008

DER SPIEGEL: Diktatur der Unschuldigen

Wie stellen die Deutschen sich eine gute Kindheit vor? Immer mehr Eltern verzweifeln an ihren kleinen Tyrannen. Der Bestseller eines Psychologen befeuert die Debatte um die richtige Erziehung.

Der Spiegel 20/2008, Elke Schmitter


Ein Gespenst geht um in Deutschland. Das Gespenst trägt den Namen "Kleiner Tyrann". Es ist derart gefürchtet, dass ein Buch mit dem Titel "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" des Autors Michael Winterhoff ein Bestseller geworden ist, von der "Bild"-Zeitung in Auszügen nachgedruckt.
Die Frage, wie Kinder zu erziehen sind und wie es gelingt, sie zu guten Erwachsenen zu machen, treibt die ganze Gesellschaft um.
Schulmisere und Pisa-Hysterie, "Super Nanny" und das "Lob der Disziplin", Erziehungsgeld und die Förderung von Kindertagesstätten, Kinderarmut und -verwahrlosung, schließlich die Gewalt gegen Kinder und deren Gewalttätigkeit: All das sind seit Jahren verlässlich aufregende Themen. Nie gab es bei uns weniger Kinder, und nie war die Sorge um sie so groß.
Eine subtil apokalyptisch gestimmte Gesellschaft, gebeutelt von elementaren Ängsten, befühlt am Kind die eigene Verletzlichkeit und prüft die eigene Verfassung: Wie gut (oder wie böse) sind wir "eigentlich"? Wie tauglich für die Zukunft? Und warum sind wir überfordert von einem Vorgang, der bis vor kurzer Zeit sozusagen nebenher gelang - nämlich den Nachwuchs zu erhalten und großzuziehen?
(Nach Winterhoff) häufen sich Fälle von Kindern mit elementaren Störungen - in ihrer körperlichen Kompetenz, in ihrer sprachlichen Entwicklung, in ihrem Sozialverhalten. Nach seiner Beobachtung fällt es immer mehr Kindern schwer, zur angemessenen Zeit zu laufen, zu klettern und korrekt zu sprechen; er konstatiert Mängel in der Konzentration, in der Fähigkeit, Frustrationen zu ertragen und sich auf soziale Situationen einzustellen.
Sprechende Einzelheiten - so die Tatsache, dass Erzieherinnen heute gar nicht mehr erwarten, ein dreijähriges Kind "sauber", also windelfrei in den Kindergarten aufzunehmen - ergänzen seinen allgemeinen Eindruck von zunehmender Überforderung bei Eltern und Kindern aus unproblematischen Milieus. Dabei bemerkt er viel Beschäftigung mit den Kindern und "ihren Problemen"; an gutem Willen fehlt es keineswegs. Etwas ist faul. Aber was?
Kurz gesagt, ein Missverständnis: Die Eltern wollen Partner ihrer Kinder sein. Sie gestehen ihnen mehr Freiheiten und Rechte zu, als beide Seiten brauchen und ertragen. Sie lieben sich um Kopf und Kragen, weil sie in ihren Kindern kleine, bedürftige Wesen sehen, denen sie ihre eigenen verdrängten und enttäuschten Wünsche erfüllen: nach konfliktfreiem Miteinander, nach lustbetontem Alltag, nach Entspannung und Freiheit von Zwang. Sie machen aus der Kindheit jene Wellness-Oase, nach der sie selbst sich sehnen.
Sie unterscheiden kaum zwischen sich und dem Kind. Wenn während einer Beratung eine Dreijährige auf den Schoß der Mutter klettert, ihr ins Gesicht greift, sie unterbricht, dann sieht Winterhoff nicht nur bei dem Kind ein Problem. Die Störung liegt auch bei der Mutter: Sie empfindet ihr Kind noch als Baby, quasi als eigenen Körperteil, eine unbewusste Fortsetzung ihrer selbst; sie mutet weder sich noch ihrem Kind jene Trennung zu, die da heißt: Mein Wille ist ein anderer als deiner. Und in diesem Moment zählt der meine.
Das Beunruhigende an dieser Symbiose ist nicht nur ihre gemütliche Seite, sondern auch ihr Gegenteil: Denn wenn jene Phase vorbei ist, in der Kinder, wie Welpen, zutraulich und niedlich sind, leicht zu besänftigen und nicht ganz ernst zu nehmen - dann wissen sich eben jene sanften und nachgiebigen Eltern oft nicht anders zu helfen als mit harten Worten, mit rohem Zwang oder auch Gewalt.
Die Enttäuschung, dass aus dem süßen Kleinen wie von selbst - und trotz aller Liebe - ein Tyrann geworden ist, paart sich mit der Scham, den eigenen Prinzipien untreu geworden zu sein. Man möchte weder sich noch andere dabei beobachten, wie man einen schreienden Fünfjährigen an den Händen aus dem Supermarkt schleift oder dessen widerspenstige Schwester mit einem Pudding besticht, damit sie ihr Gemüse isst. Aus der Unschuld wird Schuld.
Die fraglos autoritäre Aufzucht, der ungebrochene Gebrauch von Zwang, ist seit den siebziger Jahren mit Überzeugung verworfen. Der Befehl, die Ohrfeige, die barsche Anweisung sind weitgehend tabu. An ihre Stelle treten - wenn Verhandeln und Nachgiebigkeit nicht mehr das gewünschte Ergebnis erzielen - ohnmäch-tige Wut, Gezänk und Tränen bei allen Beteiligten. Warum will das Kind nicht, wie ich will? Ich habe doch alles versucht!
Nach Ausflügen in die antiautoritäre Erziehung hat eine tiefe Verunsicherung um sich gegriffen. Gerade in Deutschland, mit seinen Lebensreformbewegungen, seinen Pestalozzi-Straßen, in diesem Mekka der Waldorf- und Montessori-Schulen, war das Interesse an Pädagogik immer besonders stark. Die bohrende Frage, was den Nationalsozialismus möglich machte, gab ein zusätzliches Motiv, über Zwang und Selbstbestimmung nachzudenken.
Auch die deutsche Romantik beseelt eine Haltung, die das Natürliche dem Drill, das Authentische der Rolle, die Aufrichtigkeit der höflichen Lüge vorzieht. Während die Franzosen bereits Zweijährige in die Vorschule schicken und sie zum manierlichen Genuss eines fünfgängigen Menüs mit abschließendem Roquefort abrichten, zögern die Deutschen den Ernst des Lebens für ihre Kleinen hinaus. Sie sind die wahren Rousseauisten - während die Nachbarn ihren Pädagogen, der das Lob der natürlichen Entwicklung sang, getrost als Nationaldenkmal unschädlich machten. Es sind die Deutschen, die Grönemeyers "Kinder an die Macht" mit Begeisterung singen.
Winterhoffs Analyse trifft zweifellos einen Ausschnitt der Realität. Es gibt gewiss viele Eltern, die sich mit ihren Kindern gegen die Gesellschaft verbünden - indem sie etwa der Schule vor allem mit der Angst begegnen, den Kleinen werde dort Zwang angetan und das Lernen sei "nicht kindgerecht", indem sie so die Autorität der Lehrer untergraben.
Doch ist auch, genährt von der Pisa-Krise, die gegenteilige Tendenz zu bemerken: der Ruf nach Prüfungen, nach Kontrolle und Disziplin und die Behandlung des Nachwuchses als Investitionsobjekt: Wir geben dir größtmögliche Unterstützung, damit du durch Leistung und Benehmen zeigst, wie gut wir als Eltern sind.
Und das kann gefährlich sein. Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse, so argumentiert der dänische Familientherapeut Jesper Juul, richten weniger Schaden in Kinderseelen an als jener Narzissmus, der den Nachwuchs glücklich und erfolgreich sehen will, um sich selbst als kompetent zu erleben. Das gestörte Kind ist dann vor allem der Störfall der eigenen Biografie.
Juul, 60, ist eine Lichtgestalt der modernen Pädagogik und außerdem ein Mann mit Guru-Qualitäten. In Kopenhagen erteilt er Erziehungsberatung in riesigen Sälen; vor vier Jahren gründete er die Bewegung "familylab international", die Eltern praktische Hilfe geben soll**.
Im Unterschied zu vielen Kollegen betont er nicht die Schwierigkeiten, sondern die Ressourcen der Eltern-Kind-Beziehung. Der selbstquälerischen Suche nach Schuld setzt er einen gelassenen Optimismus entgegen.
Langjährige Erfahrung mit Krisen in Migrationsfamilien führte ihn zu einem Ansatz, der auf inhaltliche Normen weitgehend verzichtet: Er gibt keine Ratschläge, wann ein Kind im Bett liegen sollte, welche Disziplinierung geboten und welche verboten ist, ob und wie gemeinsame Mahlzeiten, Ausflüge und dergleichen gestaltet werden sollen.
Eine patriarchal bestimmte Familie in Südosteuropa hat andere Gewohnheiten und Erziehungsziele als eine Patchworkfamilie in Schweden, und englische Eltern legen auf andere Pflichten Wert als deutsche: Es kann also nicht darum gehen, die Werte und Normen zu diskutieren, die wir als Erwachsene mit unseren Erfahrungen mitbringen - und die in unserer Gesellschaft vorherrschend sind. Entscheidend für die Beziehung zum Kind ist nicht die Frage, wann es hilft, den Tisch abzuräumen, und wie viel Spielzeug im Kinderzimmer liegt; entscheidend ist, dass die Erzieher ihre Wünsche authentisch vertreten.
Wenn sie mit dem einverstanden sind, was sie tun, ist Juuls Botschaft, dann werden es auch ihre Kinder sein. Und wenn sie Wege finden, ihnen ihre Liebe und Fürsorge so zu zeigen, dass sie sie verstehen, dann ist Erziehung - immer noch kein Kinderspiel. Aber ein Prozess, der Spaß machen kann und der sie und das Kind verbindet.
In den praktischen Konsequenzen ist Juul oft nahe bei guten Erziehungsklassikern wie "Kinder fordern uns heraus", einem Ratgeber von Schülern des Individualpsychologen Alfred Adler*. Anders als sein Kollege Sigmund Freud, der seine revolutionären Erkenntnisse aus einem sehr engen gesellschaftlichen Milieu gewann, blieb der Sozialist Adler nahe an einer gemischten sozialen Realität. Auch interessierte ihn weniger die Genese traumatischer Entwicklungen als eine Verhaltenslehre der Wärme und Freiheit: Wie können Menschen, so wie sie nun einmal sind, gut miteinander umgehen? Und wie nehmen Eltern ihre Verantwortung als Erzieher wahr, ohne sich und dem Kind Gewalt anzutun?
Seit man über Erziehung nachdenkt - und das haben bereits die Griechen getan -, kämpfen Annahmen und Beobachtung miteinander. Die Frage, ob Kinder unfertige Erwachsene sind oder Wesen anderer Art, hat jede Epoche anders beantwortet. In seiner fundamentalen "Geschichte der Kindheit" beschreibt der Historiker Philippe Ariès die französische Entwicklung ausgehend vom Mittelalter, da Kinder noch nicht Gegenstand sorgender Pädagogik waren, sondern mehr oder minder verhätschelte Babys, bis sie mit etwa sieben Jahren ihren Platz in der Erwachsenenwelt einnahmen - durchweg in fremden Familien, als Lehrlinge des Lebens.
Erst die Auflösung der mittelalterlichen Gesellschaft brachte jene Veränderungen
mit sich, die unser Zusammenleben heute noch bestimmen: Die Familie entwickelte sich von einem Ort der Organisation zu einem emotional dichten Feld; die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern wurden wichtiger und inniger. Die Schule etablierte eine Phase im menschlichen Leben, in der Gleichaltrige in einer speziellen Situation gehalten und unterrichtet wurden; eine Auffassung setzte sich durch, die Kindheit und Erwachsenenleben als Gegensätze verstand.
Das Kind wurde ein Spezialfall des Menschen - je nach gesellschaftlicher Konjunktur eher unschuldig und schützenswert oder Objekt von Zucht und Formung.
Gegenwärtig sind mehrere Extreme zu beobachten. Die Familie erlebt eine Renaissance, sie wird, zunehmend realitätsfern und idealisiert, als Kuschelzone gegen eine feindselige Umwelt in Szene gesetzt (zehn Minuten Werbefernsehen würden einem Marsbewohner für diesen Befund reichen). Das Kind ist zum Inbegriff des zu hätschelnden Privaten geworden: natürlich und bezaubernd, reich an Möglichkeiten und Kreativität. Wenn man es nur ließe, würde es ein Genie! Kinderfahrkarten in der Bahn, selbstverständliche Verkitschung einfachster Gebrauchsgegenstände wie Schuhe, Anoraks, Schulranzen und Teller zu Zonen des Niedlichkeitsterrors, eine rauschende Beschäftigungs- und Belehrungsindustrie machen aus der Kindheit einen kirmesbunten Wartesaal vor dem schrecklichen Ernst des Lebens. So gesehen, scheinen wir nicht viel von unserem Alltag zu halten.
Die Idealisierung der Familie zieht auch die größten Enttäuschungen nach sich - nicht nur in Form von Trennung und Scheidung, sondern auch in der fassungslosen Erfahrung, dass so etwas scheinbar Selbstverständliches wie die Aufzucht von Kindern in einer materiell gesättigten Welt sich als heikel oder sogar schwierig entpuppt.
Und nicht zuletzt haben Neurologie und Psychologie enorme Fortschritte gemacht, die zeigen, dass schon Säuglinge wahrnehmungsfähiger sind als gedacht. Die forschungsgestützte Einsicht, dass man Kinder zu Recht Wunder an Komplexität nennen kann, hat aus ihnen Wunderkinder gemacht, denen die Erwachsenen zunehmend befangen begegnen.
Die Anbetung des Naturzustands und die unbewusste Trauer über das, was aus ihnen hätte werden können, halten viele Erwachsene in einer Erstarrung aus Andacht und Hilflosigkeit - ein Krisensymptom. In die alte Bedenkenlosigkeit führt kein Weg mehr zurück, doch für die neue Verantwortlichkeit gibt es guten Rat.
ELKE SCHMITTER
MATERIALS
Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit

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