Donnerstag, 8. Januar 2009

CLAUDE LÉVI-STRAUSS:Entropologie und die klaffenden Risse in der Mauer der Notwendigkeit



CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Traurige Tropen

"

Die Welt hat ohne den Menschen begonnen, und sie wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, der gegenüber sie keinen Sinn besitzen, es sei denn vielleicht den, dass sie es der Menschheit erlauben, ihre Rolle in dieser Schöpfung zu spielen. Abgesehen davon, dass diese Rolle der Menschheit keinen unabhängigen Platz verschafft und dass dasBemühen des Menschen – auch wenn es zum Scheitern verurteilt ist – darin besteht, sich vergeblich gegen einen universellen Verfall zur Wehr zu setzen, erscheint der Mensch selbst als eine Maschine – vollkommener vielleicht als die übrigen –, die an der Auflösung einer ursprünglichen Ordnung arbeitet und eine in höchstem Maße organisierte Materie in einen Zustand der Trägheit jagt, die immer größer und eines Tages endgültig sein wird.

Seitdem der Mensch begonnen hat, zu atmen und sich zu ernähren, seit der Entdeckung des Feuers bis zur Erfindung atomarer und thermonuklearer Verrichtungen, hat er – außer wenn er sich fortpflanzte – nichts anderes getan, als unbekümmert Milliarden von Strukturen zu zerstören, um sie in einen Zustand zuversetzen, in dem sie sich nicht mehr integrieren lassen. Ohne Zweifel hat er Städte gebaut und Felder bestellt; aber letztlich sind auch diese Dinge nur Maschinen, dazu

bestimmt, Trägheit zu produzieren, und zwar in einem Rhythmus und in einem Verhältnis, die weit größer sind als die Menge an Organisation, die diese Städte und Felder voraussetzen.

Was die Schöpfungen des menschlichen Geistes betrifft, so existiert ihr Sinn nur in Bezug auf ihn selbst, und sie werden im Chaos versinken, sobald er erloschen sein wird. So dass sich die ganze Kultur als ein Mechanismus beschreiben lässt, in dem wir nur zu gern die Chance des Überlebens sehen möchten, die unser Universum besitzt, wenn seine Funktion nicht darin bestünde, das zu produzieren, was die Physiker Entropie und wir Trägheit nennen. Jedes ausgetauschte Wort, jede gedruckte Zeile stellt eine Verbindung zwischen zwei Partnern her und nivelliert die Beziehung, die vorher durch ein Informationsgefälle, also durch größere Organisation gekennzeichnet war. Statt Anthropologie sollte es „Entropologie“ heißen, der Name einer Disziplin, die sich damit beschäftigt, den Prozess der Desintegration in seinen ausgeprägtesten Erscheinungsformen zu untersuchen.

Dennoch existiere ich. Sicher nicht als Individuum; denn was bin ich in dieser Hinsicht anderes als der Einsatz im Kampf zwischen einer Gesellschaft, welche aus Milliarden von Nerven unter dem Termitenhügel des Schädels besteht, und meinem Körper, der ihm als Roboter dient? Weder die Psychologie noch die Metaphysik, noch die Kunst können mir Zuflucht sein, Mythen, die von nun an, auch von innen her, einer Soziologie neuer Art unterworfen sein können, die eines Tages entstehenund sie nicht freundlicher behandeln wird als die alte. Das Ich ist nicht allein hassenswert; es hat auch keinen Platz zwischen einem Wir und einem Nichts. Und wenn ich mich letztlich für dieses – wie auch immer scheinhafte – Wir entscheide, so deshalb, weil mir, will ich mich nicht selbst zerstören – eine Tat, welche die Bedingung der Entscheidung aufheben würde –, nichts bleibt, als eine Wahl zwischen diesem Schein und dem Nichts zu treffen, so dass ich durch eben diese Wahl meine menschliche Lage ohne Vorbehalt auf mich nehme: Indem ich mich von einem intellektuellen Hochmut befreie, dessen Eitelkeit ich an der seines Gegenstands ermessen kann, bin ich auch bereit, seine Ansprüche den Anforderungen unterzuordnen, welche die Befreiung einer großen Masse von Menschen stellt, denen die Möglichkeit einer solchen Wahl seit jeher verweigert wird. Sowenig das Individuum in der Gruppe und eine Gesellschaft unter den anderen allein ist, sowenig auch ist der Mensch allein im Universum.

Wenn der Regenbogen der menschlichen Kulturen endlich im Abgrund unserer Wut versunken sein wird, dann wird – solange wir bestehen und solange es eine Welt gibt – jener feine Bogen bleiben, der uns mit dem Unzugänglichen verbindet, und uns den Weg zeigen, der aus der Sklaverei herausführt und dessen Betrachtung dem Menschen, auch wenn er ihn nicht einschlägt, die einzige Gnade verschafft, der er würdig zu werden vermag: nämlich den Marsch zu unterbrechen, den Impuls zu zügeln, der ihn dazu drängt, die klaffenden Risse in der Mauer der Notwendigkeit einen nach dem anderen zuzustopfen und damit sein Werk in demselben Augenblick zu vollenden, da er sein Gefängnis zuschließt; jene Gnade, nach der jede Gesellschaft begehrt, wie immer ihre religiösen Vorstellungen, ihr politisches System und ihr kulturelles Niveau beschaffen sein mögen; jene Gnade, in die sie ihre Muße, ihr Vergnügen, ihre Ruhe und ihre Freiheit setzt; jene lebenswichtige Chance, sich zu entspannen, loszulösen, das heißt die Chance, die darin besteht – lebt wohl, Wilde! lebt wohl, Reisen! –, in den kurzen Augenblicken, in denen es die menschliche Gattung erträgt, ihr bienenfleißiges Treiben zu unterbrechen, das Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen –, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze.

"

Claude Lévi-Strauss in: Traurige Tropen

1 Kommentar:

Revierflaneur hat gesagt…

Ich habe einen Link auf Ihren Artikel gesetzt:

http://www.revierflaneur.de/?p=2913