Montag, 14. Januar 2008

Mit Anstand auf die Welt

Weiß der Mensch von Natur aus Gut und Böse zu unterscheiden?
Juristen, Psychologen, Philosophen und Biologen sind einer Art Grammatik der Moral auf der Spur.

Die Umfrage:
Führerlos rast ein Zug auf die fünf Gleisarbeiter zu. Eine Möglichkeit, ihren sicheren Tod zu verhindern, wäre, den Zug in letzter Minute aufs andere Gleis zu leiten. Doch auch dort arbeitet ein Mensch, wenngleich nur ein einzelner. Ist es richtig, die Weiche umzustellen?
Was, wenn ein dicker Mann auf einer Brücke direkt über dem Bahndamm stünde? Sein schwerer Körper würde den heranrasenden Zug anhalten, die 5 Gleisarbeiter wären gerettet.
Die Weiche etwa würden die meisten betätigen. >Aber nur 15 % würden den Mann auf Gleis stoßen – und das, obwohl die Bilanz von Toten und Überlebenden dieselbe wäre.
Überall auf der Welt teilen Menschen offenbar gleiche Intuitionen von Werten wie Fairness, Verantwortung oder Dankbarkeit. Jemanden mit Absicht zu verletzen etwa gilt in allen Kulturen als viel schlimmer, als wenn dies ohne Absicht geschieht.
Nicht allein Religionen und Rechtssysteme, nicht allein Eltern und Lehrer bringen einem Menschen demnach Sitte und Anstand bei – er kommt schon mit einem Gespür dafür aus dem Geburtskanal.
Die Idee vom Moralsinn fußt auf Erkenntnissen Noam Chomskys. Der große Gelehrte behauptete, alle Sprachen dieser Welt folgten einem kleinen, aber grundlegenden Repertoire grammatischer Regeln. Dieses habe sich im Lauf der Evolution fest im menschlichen Gehirn verdrahtet. Und nur aufgrund dieser angeborenen Vorkenntnisse könne ein Kind überhaupt komplexe Sprachen lernen. Die Umwelt entscheide nur, ob dies dann Koreanisch oder etwa Norwegisch ist.

Eine angeborene „Universalgrammatik der Moral“.
Die in der aristotelischen Philosophie gängige Beschreibung des Menschen als animal rationale, als vernunftbestimmtes Tier, sei zu ergänzen: „er ist ebenso ein animal morale, ein moralbegabtes Wesen.“

Beide Gruppen des Gleisarbeiter-Dilemmas hielten es mehrheitlich für schlimmer, den dicken Mann vor den Zug zu stoßen, als die Weiche umzustellen. Die Forscher führen dies darauf zurück, dass es sich im einen Fall um einen „beabsichtigten“, im anderen nur um einen „vorausgesehenen“ Schaden handle.

Antonio Damasio deutet an, dass Patienten mit Schäden einer bestimmten Gehirnregion (Stirnlappen), nicht zu zögern scheinen, den dicken Mann vor den Zug zu stoßen, um die fünf Gleisarbeiter zu retten. Sie sehen nur den guten Zweck, nicht aber das schreckliche Mittel.

Dem angeborenen Moralsystem zufolge sind Aktionen schlimmer als Unterlassungen. Also erscheint es akzeptabler, einen unheilbar kranken Menschen an seinen Leiden sterben zu lassen, als ihn mit einer Überdosis Schmerzmittel zu töten.
Der Spiegel 51/2006

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