Montag, 14. Januar 2008

Zorn und Zeit

Zorn und Zeit
Weltgeschichte des Hasses
Sloterdijk zur politischen Macht des Furors


Die USA haben einen Krieg erklärt, der keinen bestimmten Gegner hat und deshalb kein mögliches Ende (außer dem nichterklärten Versanden).
Zufriedenheit der Gesättigten ./. den Zorn der Zurkurzgekommenen

„Den Zorn singe, Göttin des Peleussohns Achilles,
den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern
Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß“
Homer, Illias

Homer war der Chronist einer „von einem glücklichen Bellizismus erfüllten Welt“ Eine Tat war gleichbedeutend mit einer Heldentat. Die Kämpfe der Heroen auf Leben und Tod sind Zeugnisse „für das Wertvollste, was die Sterblichen, damals wie später, erfahren können: dass eine Lichtung aus Nicht-Ohnmacht und Nicht-Gleichgültigkeit in das Dickicht der naturwüchsigen Gegebenheiten geschlagen worden ist“. Wo das Schicksal beherrscht ist von launischen Göttern und feindlicher Natur, ist Tapferkeit mehr als Tugend; sie ist Bedingung der Existenz und gibt dem Leben Sinn, indem sie es erhält.
Wir fühlen uns von dieser Welt, zu Recht, milchstraßenweit entfernt. Diese Ferne ist zum Teil eingebildet, zugunsten einer falschen Beruhigung.

Was für Heidegger die Seinsvergessenheit war, ist für Sloterdijk die Zornvergessenheit. Die archaische Macht der Empörung wirkt weiter in der Kultur, auch wenn diese ein milderes Menschenbild vorzieht: weg vom Furor der Erinnyen, der Rachlust der Medea, der Mordlust der Penthesilea, und hin zu einer Idealpersönlichkeit, die ihre Affekte beherrscht und regiert, statt zu deren Spielball zu werden.

Eros und Thmos teilen sich die menschliche Seele – das Prinzip der Liebe und das Prinzip der Leidenschaft. Zu der zählen: das Streben nach Geltung und Selbstbehauptung, Regungen wie Stolz und Ehrgefühl, Durst nach Gerechtigkeit und Rachedurst dort, wo sie fehlt.
Platon, der große Moderator, hat Staatsbürger aus den Wilden gemacht, ihren Furor zur Beherztheit domestiziert – was man so braucht, wenn man möglichst zivilisierte Männer zugleich kampffähig halten will. In seiner Nachfolge werden die Stoiker den Zorn für „unnatürlich“ erklären. Platon beginnt aber bereits die Abkehr von der archaischen Welt und den Beginn eines langen Wegs hin zu jenem „Ökosystem der Resignation“.

Der große Prozess der Aufklärung hat uns Westlichen erfolgreich das Mark aus den Knochen gezogen – wir sind gehorsame Tiere, dem Konsum und der Feigheit ergeben und mit dem entsprechenden Menschenbild kostümiert. Keine archaischen Streiter mehr.
Allerdings taucht das Verdrängte historisch wieder auf. Nicht in persönlicher Anarchie, sondern im „Zorngeschäft“. Geschäfte mit dem Zorn machen jene Institutionen – revolutionäre Bewegungen, Protestparteien, Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften -, die dem Einzelnen seine Empörung abfordern, um sie zu verwalten und zu mehren; bis es genug ist für den endgültigen Schlag, das blutige Weltgericht.

Das Versprechen endgültiger Gerechtigkeit, das die Kirche auf das Jenseits verschob, den persönlichen Nimmerleinstag, verlegen die ersten Berufsrevolutionäre im 19. Jh. In eine neue Dimension. Jetzt ist es die irdische Zeit, in der die Entrechteten zu ihrem Recht kommen werden, und sie trägt einen pathetischen neuen Namen: Geschichte.
Lenin, Stalin und Mao sind die machtvollsten Vertreter eines neuen Klerus, der „Weltgeistlichen des Hasses“, für deren Wirken die „makellose Rücksichtslosigkeit“ der ersten Jakobiner nur ein bescheidenes Vorspiel war. Sie lenken die aufrührerischen Energien der Einzelnen, initiieren Aufruhr, wo er strategisch nötig ist, und predigen ansonsten Disziplin.


Die schauerliche Rede Himmlers vor seiner Mörderelite im Posener Schloss

Der Islamismus
Die Bildung eines Zornkolletkivs ist – wie am gesteuerten „Aufruhr“ um die Mohamed-Karikaturen zu sehen – in einem Tempo möglich, das vor zehn Jahren nicht undenkbar schien.
Gefühl einer historischen Zurücksetzung, das Bedürfnis nach Rache und eine Geringschätzung des Lebens, die das eigene einschließt.

Durch die neuen Medien ein Gruppengefühl inszenierbar, das von der lokalen Position des Einzelnen und der traditionellen Autorität der Korangelehrten ganz absieht: der Islamist in London ist seinem Bruder im Zorn in Bagdad näher als seinem chinesischen, englischen, indischen Nachbarn.

Wer dieses Buch gelesen hat, ist über die Vergangenheit klüger geworden. Und gedanklich besser gerüstet für das, was hoffentlich nicht geschieht (prophylaktisch statt prophezeiend).^
DS 38/2006

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